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Kultur: Die Spuren der Stadt

Die amerikanische Künstlerin Helen Mirra hat ihre Berlin-Wanderungen in Bilder übersetzt.

Fast leer sind die Räume. Still und weit. Graubraune Leinentücher mit schwarzen Farbspuren hängen an den Wänden, als würden sie schweben. Erst wenn sich das Auge an das Wenige gewöhnt hat, ist zu erkennen, dass sich die dunklen Linien aus Abdrücken von feinen Ästen und Gestrüpp zusammensetzen. Auf Wanderungen hat Helen Mirra abgestorbene Zweige aufgelesen, nach japanischer Tradition in Tinte getaucht und waagerecht auf ein rechteckiges Stück Stoff gedrückt. Im Atelier fügt sie die Tücher mit fast unsichtbaren Nadelstichen in der Reihenfolge ihrer Entstehung so zusammen, dass die Abdrücke Linien bilden. In ihrer Ausstellung „gehend (Field Recordings 1–3)“ in den Kunst-Werken verzichtet die amerikanische Künstlern diesmal auf ihre Sound- oder Filminstallationen, sie übt sich in Reduktion.

Im letzten Sommer hat die Künstlerin dreißigtägige Wanderungen in den drei unterschiedlichen Regionen unternommen, in Berlin, Zürich und Bonn, wo nun die Ausstellung Station macht. Ihre Streifzüge in die Natur sind eine Kombination aus Freude am Gehen, Spontaneität und einem Regelsystem, das die Künstlerin für sich entwickelt hat. Sieben Stunden war sie täglich unterwegs, jede Stunde entstand ein Abdruck oder – in Berlin – eine Frottage. Die drei Serien sind nun in drei Etagen der Kunst-Werke zu sehen. Keine Fotos oder Tagebuchaufzeichnungen dokumentieren die Erlebnisse der Künstlerin, nur eine Liste der Ortsbeschreibungen an der Wand eröffnet vage Assoziationsräume.

Aber gibt es überhaupt Orte, die Kottenforst heißen oder Waldemme? Die Antwort scheint ebenso unwichtig zu sein wie die botanische Zuordnung der Pflanzen, die ihr als Vorlage dienten. Die reduzierten Leinenstoffe wirken wie eine Essenz der Natur. Es ist das, was übrig bleibt, wenn alles Unnötige wegfällt: die Farben, die Geräusche, die Gerüche, Weite und Wind und Wetter. Stattdessen wird die Aufmerksamkeit auf die Form selbst reduziert. Diese Arbeiten erscheinen wie ein bildgewordenes In-Bewegung-Sein, da sie den Blick des Betrachters immer weiter ziehen und zugleich unentschlüsselbar bleiben, wie eine Schrift ohne Buchstaben oder die Fixierung von Musik ohne Noten – ein geheimes Zeichen- und Ordnungssystem, das sich im gleichen Moment ad absurdum führt.

Vollgesogen mit den Tintenspuren, fransen die Leinenstoffe an den Rändern aus, so wie auch die Grenzen zwischen Stadt und Land nicht mehr klar auszumachen sind. Nachdem die ersten Wanderungen Mirra in die Alpen und in der rheinischen Tiefebene ins Umland von Städten geführt hatte, hatte sich die Künstlerin mit Berlin die flächengrößte Stadt Deutschlands vorgenommen. Während sie im Bonner Umland täglich bis zu fünf Kilometer zurücklegte, nahm sie sich hier jeweils 5000 Schritte vor. Ortsbezeichnungen wie „Spree“ und „Grunewald“ verweisen darauf, dass es die ehemalige DAAD-Stipendiatin auch hier in die angrenzende Natur zog. Die stündlich am Boden entstandenen Frottagen unterscheiden sich deutlich von den anderen Werkgruppen. Während die Linienführung der Schweizer Arbeiten an Bergpanoramen erinnert, wecken die Bodenabdrücke von Steinen und Baumstümpfen aus der Berliner Region Assoziationen an Tierfelle oder Muster von Schmetterlingsflügeln.

Diese Wiederholung des Großen im Kleinen war nicht kalkuliert, aber der Künstlerin durchaus willkommen. Mit ihrem meditativen Herbarium lenkt Helen Mirra die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Dialektik von Fülle und Einfachheit, Streben und Loslassen, Ordnung und Freiheit – und nicht zuletzt auf das Gehen an sich. Gäbe es so etwas wie analoge Kunst, sie würde so aussehen. Katrin Wittneven

Kunst-Werke, Auguststraße 69, bis 29. 1.; Di-So 12-19, Do 12-21 Uhr (geschl. am 24. und 31. 12.). Katalog (Distanz Verlag) 30 €.

Katrin Wittneven

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