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Kultur: Die süße Lyrik schleifender Schritte

Tango-Test: Mit dem Anna-Seghers-Preisträger Fabián Casas unterwegs in Berlins Schwoflokalen

Fabián Casas singt mit. Bei den Klassikern. Gerade läuft in der Spreebar der Tango „Malena“, da kann Casas nicht anders, da lauscht er der Melodie, schaut in die Ferne. „Tango ist Lyrik, die Essenz des Tango ist das Pathos“, sagt der argentinische Dichter. „Aber dem Tango fehlt noch eine neue Lyrik.“ Sagt einer, der sich auskennt, mit Lyrik und mit Tango. Im November wurde Casas in Berlin für sein Werk – mehrere Gedichtbände, einer mit Kurzgeschichten, einer mit Essays – mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. Er gehört zur „Generation der 90er“, die die argentinische Lyrik mit bewusster Simplizität modernisierten. Für die argentinische Kultband „Pez“ hat er zum Beispiel einen Tango geschrieben, in dem ein Junge Playstation spielt.

Die Spreebar ist ein schlichter Ort: ein ehemaliges Lagergebäude in der Stralauer Allee, die Backsteinwände sauber renoviert, eine lange Bar, große Fenster zur träge fließenden Spree. Draußen ist es kalt, drinnen tanzen die Berliner jeden Donnerstag Tango. Die Kälte mache ihm nichts aus, sagt Casas. Früher habe er bei Mondlicht im kalten Zimmer seine Texte geschrieben. Es gab keine Heizung, keinen Strom, Wirtschaftskrise in Argentinien, 2001. Seine Gedichte seien immer sehr kurz gewesen, weil er die Hände schnell wieder unter den Pulli schieben musste, um sie zu wärmen. Auch der Lärm seiner Heimatstadt Buenos Aires habe seine Sätze eingedampft. Er liebe Berlin, die Sauberkeit, Ruhe und Freundlichkeit, sagt Casas. Aber warum in dieser modernen Stadt so viele Menschen Tango tanzen wollen, das verstehe er nicht.

Die Musik bleibt höflich im Hintergrund. Sohlen schaben übers Parkett. Mit einem Blick auf die Tanzfläche, auf die schlurfenden, schleifenden Schritte, die übenden Paare, sagt der 42-jährige Casas: „Wenn der Tango ein Land repräsentieren würde, wäre er kein Tanz mehr, sondern ein Stereotyp. Man kann ihn wie die deutsche Sprache deklinieren. Überall versuchen die Menschen, durch die Wärme anderer zu sich selbst zu finden.“

Langsam wird die Musik lauter. Die Frau am Nebentisch wird von ihrer Freundin hochgezogen: „Es kann doch nicht sein, dass du da so alleine sitzt“, schimpft sie. Sie verschwinden hinter einer Säule. Casas zündet sich eine filterlose Gauloise an. Auch wenn diese Bar, an der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin, in ihrer postindustriellen Tristesse vielleicht gar nicht so unpassend für den Tango ist, wirkt die Atmosphäre ein bisschen zu neu, zu kühl. In Buenos Aires sei der „echte Tango“, erklärt Casas, an versteckten, prekären, maroden Orten zu finden. Am Stadtrand.

Anstatt zu tanzen, zitiert Casas weiter Tangotexte aus seinem Privatrepertoire. „Naranja de Flor“ heißt einer: „Zuerst muss man das Leiden lernen, dann das Lieben, und dann das Sichtrennen, und am Ende muss man gehen, ohne große Gedanken, wie der Duft der Orangenblüte, das vergebliche Versprechen einer Liebe, die im Winde verwehen.“ Das Ende sei fast buddhistisch, erklärt der studierte Philosoph, der ohne Weiteres als buddhistischer Mönch durchgehen würde mit seinem kahlrasierten Kopf, dem konzentriertem Blick und dem offenen Lächeln.

Inzwischen ist die Tanzfläche voller geworden, Paare stoßen aneinander, nur wenige sitzen am Rand und schauen zu. Casas denkt an seinen Vater, der noch 80-jährig jeden Abend tanzen geht. Und Casas denkt beim Tango an ein „emotionales Land, mit dem Symbolismus eines barrio“, eines argentinischen Viertels. Er selbst wurde im Süden der Hauptstadt geboren, in Boédo, auch als Almagro bekannt und oft besungen. Zwar spielen die meisten seiner Texte dort, doch verortet sich Casas eher in einem „mentalen Stadtteil“. Er gehöre zu einem polyglotten „tribu“, einem weltläufigen Stamm. „Meine Heimat wurde von den Orten geprägt, an denen ich lebte: La Paz in Bolivien, Peru, Brasilien, Santiago de Gilette.“ Zwei Jahre war er wie ein Landstreicher unterwegs, übernachtete auf der Straße, hatte kaum Geld. Heute ist er Sportjournalist, Redakteur der Zeitschrift „El Federal“, lebt mit seiner Freundin in einem ausgebauten Hotel in der Stadtmitte, geht mit seinem Collie Rita spazieren und verteidigt ihn, wenn nötig, mit Karate gegen Doggen. Vor kurzem musste er deshalb sogar ins Krankenhaus. Mit Bisswunden.

Jetzt tritt ein Profipaar auf, die Tanzfläche wird geräumt, man schaut und klatscht andächtig, während die beiden improvisieren. Tango ist ein Slang, sagt der Dichter, die Sprache eines Ortes. Sei es die von Berlin oder von Buenos Aires. Mit oder ohne Pathos. Aber immer mit Gefühl. Vor allem, wenn einer mitsingt.

Nikola Richter

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