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Kultur: Die Supermacht in uns allen

Verdammte Weltverbesserer: Lars von Triers große Kino-Moritat „Manderlay“

Lars von Trier gehört zu den Filmemachern, die es gerne übertreiben. Er stellt einfache Fragen, er mobilisiert elementare Gefühle und radikalisiert sie auf Schwindel erregende Weise. Er schnallt sich die Kamera um, als handele es sich um eine Tiefseetaucher-Ausrüstung, und erforscht die Abgründe des Menschengeschlechts. Sein Kino: eine Versuchsanstalt. Und der Regisseur: ein Forscher, ein Puppenspieler, ein Philosoph.

Was ist Liebe, fragte Lars von Trier in „Breaking the Waves“ und schickte eine Frau für die Antwort in die Hölle. Was ist normal, fragte er in „Idioten“, und führte die selbsterfundenen Dogma-Gebote ad absurdum, indem er sie mit dem Wahnsinn einer realen Tragödie konfrontierte. Was ist Schuld, fragte er in seinem Musical „Dancer in the Dark“, und seine Heldin starb am Galgen. Und nun, in seiner USA-Trilogie, die mit „Dogville“ begann: Was ist Amerika? Oder genauer: Was ist Amerika, die Supermacht in uns allen?

„Manderlay“ heißt der zweite Teil der Trilogie. Eine Baumwollplantage in Alabama, 1933. Grace (Bryce Dallas Howard), die Gangster-Tochter aus „Dogville“, ist entsetzt: In Manderlay gelten noch die Gesetze der Sklaverei. Der stolze schwarze Sklave Timothy (Isaach de Bankolé) wird gerade von seinem weißen Herrn ausgepeitscht. Grace greift ein und leiht sich von ihrem GangsterDaddy (Willem Dafoe) für den guten Zweck ein paar Bandenmitglieder aus. Die alte Plantagenbesitzerin (Laureen Bacall) stirbt, Grace übernimmt das Regime, entmachtet die Weißen und lehrt die Schwarzen Freiheit und Demokratie. Wir stimmen jetzt ab: Ob nach Sonnenuntergang noch laut gelacht werden darf, ob es acht oder fünf Minuten vor zwei ist.

Aber die Freiheit ist anstrengend. Wie soll ein selbstbestimmtes Leben führen, wer nichts anderes kennt als Unterdrückung? Ein Sandsturm macht die Baumwollernte zunichte, die Bewohner von Manderlay fressen Erde wie zuvor, es kommt zu Meuterei, Aufruhr, Selbstjustiz, Anarchie. Ein unschuldiges Kind stirbt den Hungertod, eine arme Alte wird wegen Mundraub zum Tod verurteilt. In „Dogville“ spielte Lars von Trier auf Motive aus Brechts „Dreigroschenoper“ an, diesmal greift er auf das Vorwort zum erotischen Roman „Geschichte der O“ zurück. In „Das Glück der Sklaverei“ schildert Jean Paulhan, wie Sklaven in der Karibik ihren weißen Herrn massakrieren, weil er sie nicht länger befehligen will. Am Ende ist es Grace, die Timothy auspeitscht – den Mann, dem sie sexuell verfallen ist –, um die eigene Haut zu retten.

Dialektik der Aufklärung: Die repressive Gesellschaft frisst ihre Kinder. Die Sklaven selbst schrieben die Gesetze, die sie unterdrückten. Die Parallele zum Irakkrieg liegt auf der Hand – und zu New Orleans. Grace, die Besatzungsmacht, mischt sich in innere Angelegenheiten ein und verordnet mit Gewalt das Ende derselben. Grace, die Gütige, wird zur Rassistin, als es um ihr Überleben geht.

Der Schauplatz ist eine Theaterbühne, wie in „Dogville“. Kreidestriche markieren die Landkarte, die Requisiten sind spärlich: ein Zaun, ein paar Bretter für die Hütten der Bewohner, Säulen für die Villa, ein Esel in der Tretmühle. Unsichtbare Türen knarren, der Sturm ist eine rote Wolke, der kleine Sandhügel auf den kahlen Bühnenbrettern hinterlässt. Die Moritat in acht Kapiteln wird von John Hurts Off-Erzählung mit selbstironisch-britischem Understatement kommentiert. Erneut herrscht biblische Dunkelheit.

Aber Lars von Triers Minimalismus reduziert das Filmische nicht auf Brecht’sche Ästhetik oder das arme Theater eines Peter Brook. Die Abstraktion gebiert zugleich eine sinnliche Intimität, die auf der Bühne nicht möglich wäre. Denn die Kamera fokussiert mit fiebriger Nervosität die Menschen, denen der Erzähler Eigenschaften und Absichten zuschreibt. Der weise Haussklave Wilhelm (Danny Glover). Der stolze, schweigende Timothy. Die eifrige Grace. Die alte Wilma, die dem kranken Kind seine letzte Nahrung stiehlt. Der Anwalt, der für kriminell wasserdichte Verträge sorgt. Hector, der Kriegsgewinnler. Typen, mitten aus der Wirklichkeit gerissen: Profile im Schattenriss, hautnahe Gesichter, komplizenhaft leise Stimmen, Spotlights in der Bühnenhöhle. Lars von Trier erkundet seinesgleichen wie mit der Taschenlampe und eröffnet einen suggestiven, auratischen Raum für die Sprache, für die Schlagschatten der Zivilisation und die Grenzen des Humanismus – mit hypnotischer Wirkung. Mehr noch als „Dogville“ ist „Manderlay“ ein hellwacher Alptraum, eine Trance, eine rituelle Beschwörung.

Aber was genau beschwört Lars von Trier? Die amerikanischen Kritiker beschimpfen ihn gern als selbst ernannten Geschichtsprofessor. Wegen seiner notorischen Reisephobie war der dänische Regisseur noch nie in den Vereinigten Staaten. Er kenne gar nicht, was er aufs Korn nimmt, wenn er zum Abspann Fotos von den Rassenunruhen der sechziger Jahre zeigt, vom Ku-Klux-Klan bis zu Martin Luther King, aber auch von George W. Bush. So einer prangert den Rassismus in Amerika an, lange nach dem Ende der Rassentrennung, fragten viele bei der Uraufführung von „Manderlay“ in Cannes.

Mit New Orleans hat „Manderlay“ eine bestürzende Aktualität erfahren. Das Ende der Rassentrennung bedeutet eben nicht das Ende der Diskriminierung. Aber das ist nicht das Entscheidende. Lars von Trier stellt sich vor allem den eigenen Dämonen, beschwört die eigene Skepsis, die Selbstzweifel und das moralische Dilemma eines ernüchterten, europäischen Idealisten. Wir sind es ja selbst, die es gut meinen mit dem Irak, mit unterdrückten Völkern, kopftuchtragenden Musliminnen, ghettoisierten Schwarzen oder nicht-integrierten Migranten. Wir wissen es noch besser als die Supermacht und beharren wie Grace darauf, dass Freiheit das Allerwichtigste sei, wichtiger noch als Gerechtigkeit oder der Kampf gegen den Hunger. Wir schwingen große Reden von der Erziehung des Menschengeschlechts und sind entsetzt, wenn die Underdogs plündern, Autos anzünden, Selbstmordattentate begehen. Aber nein, wir haben keine Ressentiments. Es ist das eigene sozialarbeiterische Gutmenschentum, das von Trier so unbarmherzig seziert.

Fast immer sind es Frauen, großartige Schauspielerinnen, an denen er seine Exempel statuiert. Frauen, die naiv sind und unbeugsam, noch in der größten Demütigung: Emily Watson, Björk, Nicole Kidman als Grace in „Dogville“ und nun Bryce Dallas Howard als zweite Grace. Auch Howard verleiht ihrer Figur eine atemberaubende Mischung aus Kindlichkeit und Stolz, Idealismus und Pragmatismus, ätherischer Anmut und Bodenständigkeit. Eine bislang kaum bekannte Darstellerin, eine Entdeckung. Ahnungsvoller Engel, du: Wie eine Schlafwandlerin bewegt sie sich über die Bühne, staunend, mit leicht geöffnetem Mund will sie die Welt retten, begreift nichts, wird hinters Licht geführt. Als sie sich Timothy hingibt, legt er ein weißes Taschentuch auf ihr Gesicht: Der Sex, ein Gewaltakt. Die unterdrückte Unterdrückerin.

Lars von Trier, auch das wird ihm vorgeworfen, erzählt aus der Perspektive der Weißen, der Gangster. Eine Frage der Ehrlichkeit: Er behauptet nicht zu wissen, wie es ist, ein Sklave zu sein. Das wäre vermessen. Seine Sympathie gehört Grace, dem tapferen Alter Ego. Grace heißt Gnade, und doch quält er sie, so wie er Nicole Kidman quälte oder Emily Watson. Weil er sich selbst quält. Es sind nicht die inneren Angelegenheiten anderer, in die Lars von Trier sich einmischt. Er zielt auf die eigene Unzulänglichkeit. Die Bilder von der Wirklichkeit der Schwarzen in Amerika sprengen die Grenzen des Kinos. Aber er möchte sich ihrer Wucht wenigstens stellen: Deshalb zeigt er sie zum Abspann. Lars von Trier ist ein altmodischer Filmemacher. Er mutet dem Publikum das Denken zu.

Ab Donnerstag in Berlin im Filmtheater am Friedrichshain, Neue Kant Kinos, Yorck. OmU: Hackesche Höfe, Neues Off.

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