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Abbildung der Gebrüder Goncourt.

© Abbildung: Jonathan Wolstenholme/2001

Die Tagebücher der Brüder Goncourt: Die hohe Kunst der Nestbeschmutzung

Kulturgeschichte und Klatsch: Nun erscheinen die pikanten Tagebücher der Brüder Goncourt erstmals vollständig auf Deutsch.

Die Salonkultur Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert war legendär. Schriftsteller und Philosophen trafen sich bei feuchtfröhlichen Soireen, um hehre Fragen der Kunst zu erörtern, vor allem aber, um den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Zu den schillerndsten Figuren des Pariser Literaturlebens zählten die Brüder Goncourt, deren einst dem Naturalismus bahnbrechenden Romane vielleicht zu Recht kaum noch gelesen werden, nach denen aber der bedeutendste französische Literaturpreis, der Prix Goncourt, benannt ist und deren wichtigstes Vermächtnis ein „Journal“ ist, von 1851 bis 1896 geführten Tagebüchern, die jetzt in einer zwölfbändigen Ausgabe erstmals vollständig in deutscher Übersetzung erscheinen.

Der nicht immer hellsichtige Kritiker Sainte-Beuve, eine Art Marcel Reich-Ranicki seiner Zeit, scharte bei im Pariser Restaurant Magny regelmäßig abgehaltenen Diners neben den Goncourts Théophile Gautier, Guy de Maupassant oder Gustave Flaubert um sich. Gelegentlich war auch Iwan Turgenjew zu Gast. Es herrschte ein Geist der Freiheit, auch der Freizügigkeit – wie im berühmten Salon des Baron d’Holbach, in dem sich ein Jahrhundert früher Denis Diderot und die Pariser Aufklärerclique getroffen hatten. Mit ihnen verglichen sich die Brüder Goncourt & Co selbstsicher – und zu Recht. Man nahm kein Blatt vor den Mund, Denkverbote waren verboten, nur wäre niemand auf die Idee gekommen, dass das Gesagte jemals an die Öffentlichkeit gelangen würde.

Die Brüder müssen ein schrulliges Paar gewesen sein. Glaubt man der Historikerin Anka Muhlstein, so lebten nach dem Tod der Mutter 1848 der 1822 geborene Edmond und der 1839 geborene Jules in trauter Zweisamkeit zusammen und verbrachten bis zu Jules’ Tod im Jahr 1870 nur einen einzigen Tag getrennt voneinander. Die Goncourts gingen sogar gemeinsam ins Bordell (und empfanden das gleiche Verlangen nach dicken Frauen). Entsprechend verwundert es nicht, dass es kein Buch, ja keinen Artikel aus ihrer Feder gibt, den sie nicht zu zweit verfasst oder wenigstens unterzeichnet hätten. Die Brüder selbst nahmen ihre symbiotische Existenz mit Ironie: „Am selben Abend kam uns beiden im selben Moment die Idee, auf einen gewissen Kohlkopf im Garten zu pissen.“

Erfolglos gestartet als Maler, wechselten sie zum Journalismus, um schließlich Romane zu schreiben – am bekanntesten ist wohl die Dienstmädchengeschichte „Germinie Lacerteux“. Mit der am 2. Dezember 1851 ausgeheckten Idee, alles aufzuschreiben, was die Literaturprominenz in Salonrunden so zum Besten gab, wurden sie zu gefürchteten „Spitzeln der Wahrheit“, wie seinerzeit der „Figaro“ donnerte. Man könnte auch sagen, bei den Brüdern Goncourt handelt es sich um die prominentesten Whistleblower des 19. Jahrhunderts. Genau hierfür – und nur hierfür – wurden sie von Autoren wie Marcel Proust später so sehr geschätzt.

Die Veröffentlichung der Tagebücher war skandalös.

Die Veröffentlichung der Tagebücher war skandalös. Zunächst publizierte Edmond, der das „Journal“ nach dem Tod seines Bruders weiterführte, 1885 eine vorsichtig zensierte Auswahl. Die aber genügte, um wütende Proteste Hippolyte Taines oder Emile Zolas hervorzurufen. Zolas „schwache Blase“ war eines der pikanten Sujets, über das sich die Goncourts maliziös ausließen: Es sei unvorstellbar, wie oft der Autor der „Nana“ gepisst oder zu pissen versucht habe.

Thema waren auch die Sexualgewohnheiten Alphonse Daudets oder Alexandre Dumas’. George Sand erscheint als „wiederkäuende Sphinx, eine Apis-Kuh“, Sainte Beuve als impotent. Daneben erfährt der Leser Details aus der Schreibwerkstatt Flauberts, genauso viele allerdings über dessen Liebesleben: „Da kommt Flaubert in Fahrt mit glühendem Gesicht, die großen Augen rollend, und sagt, Schönheit sei nicht erotisch, schöne Frauen seien nicht zum Vögeln da … er habe nie wirklich eine Frau gevögelt, er sei Jungfrau, er habe aus allen Frauen, die er gehabt habe, die Matratze einer anderen erträumten Frau gemacht.“

Neben solchen Zitaten stehen auch politisch und künstlerisch verfängliche. Die Einträge, lautete der Einwand, seien allesamt aus dem Kontext gerissen, dadurch unehrlich, außerdem werde die Privatsphäre verletzt. Den Begriff Nestbeschmutzer hätten viele der in den Tagebüchern vorkommenden Zeitgenossen als Euphemismus empfunden. In weiser Voraussicht entschied Edmond, dass das Tagebuch in Gänze erst nach seinem Tod erscheinen sollte. Aber noch im Jahr 1954 kochte die Publikation des vollständigen „Journals“ in Frankreich zum Skandal hoch – auch durch eine Klage der Daudet-Erben. Gleichzeitig wurde es neugierig gelesen.

Das „Journal“ ist bis heute beispiellos geblieben. Internettagebücher wie Rainald Goetz’ „Abfall für alle“ oder auch dessen „Loslabern“, in dem er stilisierte Einblicke ins Innenleben des Feuilletonbetriebs bietet, haben bei aller Finesse weniger Sprengkraft.

Obwohl die Lektüre des Goncourt-Journals auch unerquicklich belanglose Seiten hat, ist die Publikation eine Sensation. Neben Klatsch und geistreichen Aphorismen bietet es wertvolle Einblicke in die Kulturgeschichte und Literaturentwicklung immerhin eines halben Jahrhunderts und führt seine Protagonisten so plastisch vor Augen, als hätte man es mit einem Roman zu tun. „Die ganze Literatur schuldet den Goncourts Dank!“, schreibt Flaubert 1865. Von den Tagebüchern und dem, was ihm die beiden Dioskuren darin antun, hatte er da noch keine Ahnung.

Edmond und Jules de Goncourt: Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben 1851–1896. Aus dem Französischen von Cornelia Hasting, Petra-Susanne Räbel und Caroline Vollmann. Haffmans bei Zweitausendeins, 12 Bände, 6736 Seiten, 250 €.

Tobias Schwartz

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