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Kultur: Die tiefe Wunde unter der glatten Haut

Seymour Levov, genannt der "Schwede", ist ein guter Mensch.Sein Leben lang hat er sich bemüht, das Vorbild zu sein, das andere in ihm schon als Jugendlichem sehen wollten.

Seymour Levov, genannt der "Schwede", ist ein guter Mensch.Sein Leben lang hat er sich bemüht, das Vorbild zu sein, das andere in ihm schon als Jugendlichem sehen wollten.Als Sohn und als Ehemann, als Vater und als Firmenchef - ja, auch als Staatsbürger: Seymour gab stets sein Bestes und hatte Erfolg.So wurde er in den Augen seiner Mitmenschen zu einem Sinnbild des gelungenen Lebens, zur Verkörperung männlichen Anstands und Verantwortungsbewußtseins.So weit, so schrecklich.Seymour Levov ist der Held in Philip Roths neuem Roman.Sein Leben ist eine nur mühsam getarnte Katastrophe.

Und doch ist dieser Mr.Nice Guy untypisch für einen Protagonisten aus der Welt der Rothschen Romane.Nicht nur der legendäre Alexander Portnoy aus Roths frühem Skandalerfolg "Portnoys Beschwerden" (1969), auch Mickey Sabbath, die groteske Hauptfigur seines letzten Romans "Sabbaths Theater" (1995) waren Antihelden, triebgesteuerte Nonkonformisten und zur Selbstzerstörung neigende Verächter moralischer Regeln und gesellschaftlicher Normen.Mit "Sabbaths Theater""hatte Roth Abschied genommen von dem selbstreferentiellen Spiel mit dem eigenen Leben und den Konventionen der Autobiographie, das sein Schreiben über viele Jahre vor allem bestimmt hatte.Damit verschwand - nur vorübergehend, wie sich jetzt zeigt - auch Nathan Zuckerman, jene Spiegel- und Gegenfigur, die als des Autors Alter ego dessen so ironisch wie verwirrend inszenierte narzistische Tänze auf der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit in mehreren Büchern begleitet, kommentiert und konterkariert hatte.Roth, so könnte man pointiert sagen, hat sich von einem postmodernen wieder in einen modernen Autor verwandelt.

Im "Amerikanischen Idyll" (aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.Carl Hanser Verlag.München 1998.464 Seiten, 45 Mark) ist Zuckerman wieder da, doch er ist ein anderer.Seit einer Prostata-Operation ist er impotent, inkontinent und dazu verurteilt, ein Leben allein als - "reiner Schriftsteller" zu führen.Durch Alter und Krankheit wohl nicht geläutert, aber leise und melancholisch gestimmt und voll der Einsicht in die unausweichliche Vergeblichkeit aller menschlichen Bestrebungen, einander zu verstehen, bleibt er weitgehend unsichtbar am Rande des Geschehens, um uns die Geschichte von Seymour Levovs Vertreibung aus der von ihm selbst erschaffenen Idylle zu erzählen.Es ist die "Tragödie des Jedermann", sagt Zuckerman, "die Tragödie des Menschen, der auf Tragödien nicht vorbereitet ist".Und es ist vor allem eine zutiefst amerikanische Tragödie, von einem, der alles richtig macht, der als blonder und blauäugiger (daher der Spitzname "Schwede") Nachfahre jüdischer Immigranten sich einen Weg ins Herz des alten, protestantischen Amerika bahnen kann, dem alles zu gelingen scheint, in diesem Land, das er liebt, wie es nur einer lieben kann, der weiß, was er seiner Assimilierung an die Mehrheitskultur zu verdanken hat, bis plötzlich alles zerfällt, was einmal selbstverständlich war.

Wer hätte gedacht, daß Zuckerman, daß Roth mit soviel Ernst, mit so ungebrochener Zuneigung, mit solchem Einfühlungsvermögen von einem idealen Amerika erzählen und seine Zerstörung so eindrücklich und nicht ohne Pathos bedauern würde! In einem Essay hat Philip Roth die sechziger Jahre einmal als "Jahrzehnt der Entmythologisierung" bezeichnet, in dem alles, was man in Amerika für dauerhaft gehalten habe, zu Bruch gegangen sei.Streckenweise liest sich "Amerikanisches Idyll" aufgrund seines gemessenen Tempos und milden Tons, des weitgehenden Verzichts auf karikaturenhafte Überzeichnungen von Figuren, wie man sie sonst von Roth kennt, und seines liebevollen Blicks für amerikanische Genreszenen beinahe wie eine Remythologisierung.In jedem Fall aber handelt es sich um den Versuch, die amerikanische Nachkriegszeit anhand einer exemplarisch zu verstehenden Familiengeschichte mythisch und dennoch neu zu erzählen.Schon die Überschriften der drei Hauptteile des Romans ("Erinnerungen an das Paradies", "Der Sündenfall"" und "Das verlorene Paradies") deuten an, daß der Mythos vom Verlust der Unschuld dabei eine zentrale Rolle spielt.

Nathan Zuckerman war während des Zweiten Weltkriegs im gleichen Viertel von Newark wie Seymour Levov aufgewachsen.Dieser war schon als Schüler der High-School ein gefeierter Held, der mit Leichtigkeit im Baseball, Basketball und Football glänzte.Seine sportlichen Erfolge versetzten die jüdische Nachbarschaft in Begeisterung, sie lenkten von den Sorgen des Kriegs ab und suggerierten den Jüngeren, daß sie es weit bringen konnten, sofern sie sich am amerikanischen Mainstream orientierten.Levov meldet sich freiwillig bei den Marines, steigt nach dem Krieg in die väterliche Handschuhfabrik ein, heiratet eine irischstämmige Katholikin, eine ehemalige Schönheitskönigin von New Jersey, und scheint ein ebenso banales wie glückliches Leben zu führen.Auf einer Feier zum 45.Jubiläum seines High-School-Abschlusses erfährt Zuckerman, daß der Schwede gestorben ist, kurz nachdem er sich mit Zuckerman getroffen hatte.Für den Schriftsteller, der begeistert gewesen war, dem Vorbild seiner Jugend nach Jahrzehnten wieder begegnen zu können, wurde das Treffen ob der ostentativen Belanglosigkeit und undurchdringlichen Oberflächlichkeit Levovs zum Fiasko.Nun erfährt er vom Bruder des Schweden, daß im Leben des Seymour Levov etwas gründlich schief gelaufen war.Die wenigen Informationen, die Zuckerman erhält, werden zum Ausgangspunkt für seine Mutmaßungen über den Toten, die den Großteil des Romans ausmachen."Er ist unser Kennedy", sagt sich Zuckerman, bevor er daran geht, sich eine "realistische Chronik" vom Leben des Menschen Levov "zusammen zu träumen".

Das große Rätsel im Leben des Schweden, die tiefe Wunde unter der glatten Haut, die hat seine Tochter Merry hinterlassen.Die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß dieses privilegierte, liebevoll und liberal erzogene Kind sich Ende der sechziger Jahre, angesteckt von den Protesten gegen den Vietnamkrieg, aggressiv gegen alles wendet, wofür ihre um Verständnis bemühten Eltern stehen, bis sie schließlich aus maßlosem Haß auf das Amerika, dem ihr Vater alles zu verdanken glaubt, zur Terroristin wird, diese Frage bildet das Movens der Handlung.Doch beantwortet wird sie nicht.Bei einem Bombenanschlag auf das Postamt von Old Rimrock, jenem pastoralen Idyll, in dem die Levovs wohnen, kommt zufällig ein Arzt ums Leben.Merry verschwindet im Untergrund, und Seymour ist am Ende: Nichts hat ihn auf "die schlimmste Lektion" vorbereitet, "die das Leben lehren kann - daß es sinnlos ist"."

Zuckermans nur allmählich fortschreitendes Erzählen, das ganz durchdrungen ist von Erinnerungen und Reflexionen und immer wieder zu Exkursen anhebt, wird zu einer Auseinandersetzung und Abrechnung mit dem als destruktiv verzeichneten kulturellen Wandel, den die Exzesse und Radikalismen der sechziger Jahre herbeigeführt haben.Dabei sind es vor allem Frauenfiguren, die den Männerglauben an den amerikanischen Wertekonsens, mal militanter, mal sanfter unterminieren.Sie kommen nicht gut dabei weg.

Auch wenn manchem ein gewisser Hang zur Pathologisierung der Protestbewegung sauer aufstoßen wird, solche und andere ideologiekritischen Einwände treffen nicht wirklich die Essenz dieses Buches.Die Qualität von Literatur bemißt sich nicht an ihren weltanschaulichen Positionen - ohnehin wäre im vorliegenden Fall die mehrfache Vermittlung der Erzählposition in Rechnung zu stellen.Nicht daran, ob sie unsere politischen und moralischen Haltungen bestätigt oder irritiert, sondern daran, ob es ihr gelingt, mit sprachlichen Mitteln eine Welt zu entwerfen, die es dem Leser ermöglicht, im Raum der Imagination intensive Erfahrungen zu machen, zeigt sich die Qualität eines Romans.Das ist keine Frage des Realismus, sondern der schriftstellerischen Einbildungskraft.

In dieser Hinsicht ist Philip Roth, der für "Amerikanisches Idyll" mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, derzeit von kaum einem amerikanischen Autor zu übertreffen.Man muß das Bild vom moralischen Zerfall der amerikanischen Gesellschaft, das der Roman entwirft, politisch nicht teilen.Roths gestalterische Kraft liegt darin, uns im Rahmen einer facettenreichen, technisch raffiniert erzählten Familiengeschichte die Zerstörung des Mythos von der amerikanischen Normalität, der so viele Existenzen geprägt hat, auch dann als faszinierend erleben zu lassen, wenn wir nie an ihn geglaubt haben.

THOMAS RATHNOW

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