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Schreiber im Seitenlicht. Der 1966 geborene Schweizer Schriftsteller Christian Kracht.

© Frauke Finsterwalde

"Die Toten" von Christian Kracht: So, wie es niemals gewesen sein wird

Von der Macht der Bilder und der Zwecklosigkeit der Ironie: Christian Krachts mal lustiger, mal egaler Harakiri-Hollywood-Historienroman „Die Toten“.

So ein dahingehauchtes, trotzdem irgendwie kräftiges H als letzter Laut aus dem Mund eines Sterbenden – das kann einen sogenannten Hinterbliebenen ein paar Tage um den Schlaf bringen, womöglich als Figur durch einen ganzen Roman tragen. Was hat der Verstorbene damit bloß gemeint? Was wollte er noch sagen? „War jenes H der Anfang eines Wortes oder sogar eines Satzes gewesen? Ein finaler Gedanke, der alles hätte klären können, ein Satz des Verzeihens, dann aber doch der zumindest teilweisen Absolution?“.

Das fragt sich eine der beiden Hauptfiguren in Christian Krachts neuem Roman „Die Toten“, der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli, nachdem er den Tod seines Vaters „exakt drei Tage lang beweint“ und „des Nachts“, da er nicht schlafen kann, „lange im Walser gelesen hat“. Wohlgemerkt: im Robert Walser. Denn „Die Toten“ ist zeitlich in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und davor angesiedelt, räumlich in der Schweiz, Japan, Deutschland und Kalifornien.

Kracht hat mit diesem Roman ein weiteres Mal, nach seinem Abenteuer- und Kolonialismusroman „Imperium“ von 2012 und dem kontrafaktischen Post-Erster-Weltkrieg-Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ von 2008, einen historischen Stoff gewählt. Und ein weiteres Mal stürzt sich der deutschsprachige Literaturbetrieb auf ihn und sein Buch. Alle wollen der oder die Erste sein, es und ihn zu präsentieren, so, als werde er ein literarisches Heilsversprechen abgeben.

Kracht hat eben 1995 mit seinem Roman „Faserland“ nicht nur den Grundstein für den Popliteratur-Boom gelegt, nein, er ist in Folge vom Schriftstellerdandy zum Provokateur und Rätselmann geworden, zu einem Schriftsteller mit Aura, womöglich weil er in Interviews kaum Wesentliches von sich gibt, zu einem geheimnisvollen Autor ohne wirkliches Geheimnis.

Der aber, nicht zuletzt das macht seine Attraktivität aus, immer schön draußen vor dem Betrieb bleibt, als Autor, der alle paar Jahre mit einem Buch kurz in Deutschland aufschlägt, um sich anschließend wieder irgendwo auf dem Globus zurückzuziehen (im Moment Los Angeles, davor Argentinien) – und dann die Erwartungen immer wieder unterläuft. Denn „Die Toten“ – so heißt auch die letzte Erzählung von James Joyce – ist zwar ein historischer Roman, macht jedoch nie den Eindruck, als würde er sich mit Geschichte wirklich auseinandersetzen oder wenigstens stringent etwas erzählen wollen. Der Roman hat etwas von einer Farce, einer Historienspielerei und -klamotte mit vielen realen Nebenfiguren wie Charlie Chaplin, Heinz Rühmann, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Alfred Hugenberg oder Ernst Hanfstaengl.

Kracht behandelt viele seiner Themen nur leicht und obenhin

Dreh- und Angelpunkt ist ein Film, den Nägeli als quasi Ersatzdeutscher und „langweiliger Schweizer“ für die deutsche Filmindustrie in Japan drehen soll. Die Japaner haben, in Person des Ministerialbeamten Masahiko Amakasu, der zweiten Hauptfigur, die Deutschen darum gebeten, „Fachleute“ zu schicken – und einen berühmten deutschen Filmregisseur, um zwischen Tokio und Berlin gegen die Übermacht des amerikanischen Films eine „zelluloidene Achse“ zu bauen.

Nägeli sagt zu, trotz Bedenken: Er ist geldgierig, ein Mann in der Lebensmittekrise, zudem hält sich seine Verlobte Ida in Japan auf. Der Witz ist, dass er unter dem Einfluss seiner neuen Bekannten Kracauer und Eisner gar nicht daran denkt, einen typisch deutschen, betont antiamerikanischen Film zu drehen, sondern einen Schauerfilm im Sinn hat, was zu seiner Verblüffung dem den Nationalsozialisten nahestehenden Ufa-Chef Alfred Hugenberg zu gefallen scheint.

Die Ufa prellen, Betrüger betrügen, selbst betrogen werden, sich Ideologien verweigern, dazu das Zwiespältige von Kunstschaffenden wie Heinz Rühmann und Fritz Lang, von Leuten wie Hugenberg und Hanfstaengl, die um ihres Vorteils willens mit den Nazis kollaborieren – das könnten zentrale Themen sein, würde sie Christian Kracht nicht nur so leicht- und obenhin behandeln, ironisch-humorig, distanziert, wie alles in diesem Roman. Der ist randvoll mit Stoff, wirkt aber wie ein kabarettistisches Nummernprogramm.

Die Lebensgeschichten der beiden fiktiven Hauptfiguren werden in dem ersten und längsten der drei Kapitel geschildert. Dann ist da Japan als Haupt-Schauplatz des zweiten, im Präsens erzählten Kapitels, ja, von wegen Tempo: mit Chaplin als zentraler Nebenfigur, mit der Schilderung der (realen) Ereignisse um die Ermordung des japanischen Premiers Inukai Tsuyoshi durch elf junge Marineoffiziere, mit der Verbeugung vor dem No–Theater. Ja, und dann sind da Nägelis private Malaisen, weil seine Ida mit Amakasu schläft, die ihn etwas völlig anderes als einen Gruselfilm drehen lassen, einen Film, der auch, ach je, „Die Toten“ heißt; dann die Abgänge von Figuren wie Kracauer, Eisner, Hanfstaengl oder dem Lehrer Amakasus in eigenen Kurzkapiteln. Und, und, und.

Was sollen bloß die vielen rosa und lila Bleistifte?

Kracht betreibt viel Aufwand – nur für was eigentlich? Natürlich, das begreift man gleich zu Beginn, da ein ritueller japanischer Selbstmord gefilmt und von Amakasu als Lockangebot nach Deutschland geschickt wird, geht es um die Macht von Bildern, um das massive Aufkommen einer noch relativ neuen Kulturtechnik, des Films, seiner vielfältigen manipulativen Verwendungmöglichkeiten, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Darstellung von Gewalt und ihrer Ästhetisierung. Da ragt auch mal ein Satz in die Gegenwart wie „Es gab bestimmte Dinge, die man nicht abbilden durfte, nicht vervielfältigen, es gab Geschehnisse, an denen wir uns mitschuldig machten, wenn wir deren Wiedergabe betrachteten.“

Nur mag man das nicht so über die Maßen für bare Münze nehmen, weil Kracht und sein Erzähler stets in einer diffusen Halbdistanz bleiben. Die Ironie scheint hier überhaupt keinem Zweck zu dienen, ist vielmehr ein Mittel zur Zwecklosigkeit. Das geht von Fun-Formulierungen wie „versonnen dämlicher Hugenberg“ oder „unbarmherziger Nägeli“ über häufig auftauchende Bleistifte (wahlweise zartrosa oder hellviolett) bis hin zu Formulierungen wie „Wir erinnern uns“, die das Allwissende des Erzählers überdeutlich herausstreichen. Die Gewaltszenen erinnern an Tarantino, gerade im Wechsel mit solchen, in denen etwa Amakasu „in einem dostojewskischenAnflug von Selbstvergessenheit“ sich im Ohr puhlt. Klar, man kann Spaß haben, zum Beispiel wenn Kracht sich bei der Beschreibung Naegelis selbst porträtiert:. Wie dem die hellblonden Haare ausgehen, er versucht, seine aufkommende Glatze zu kaschieren, sich einen Vollbart wachsen lässt etc. That’s entertainment, aber stilistisch sehr überkandidelt.

Wunderte man sich bei der Lektüre von „Imperium“ über einen an Thomas Mann angelehnten Stil, über die zum Teil unrhythmischen, ewig langen Sätze, die Mann allerdings so nie geschrieben hat, so fällt in „Die Toten“ die Adjektivinflation auf, eine, natürlich sorgsam und betont übertriebene Verwendung von unnötigen, letztendlich die Sätze zusammenhaltenden Adjektiven.

John Huston verfilmte "Die Toten" 1987 - es war sein letzter Film

Die „feine, weiße Bauchhaut“ muss noch eine „sanfte Wölbung“ haben; „käfergleich“ rasselt es aus des Vaters „kaminöser Kehle“; „orangerot“ erglüht die „hastig angezündete Zigarette im weißen Licht des Projektors“; und das „eichendorffsche“ Soundso, das „hölderlinsche“ Soundso gibt es auch noch, so viel Romantik muss sein, trotz Walser hier, Dostojewski dort. Zu schweigen von überflüssigen Bildern wie den Dörfern, die bei Kracauers, Langs und Eisners fiktiver nächtlicher Eisenbahnfahrt nach Frankreich wie „lediglich im Vorübergehen befruchtete Bienenstöcke“ vorbeiziehen. Oder Berlins Fassaden säumende, überdies, na klar, „ungezählte“ Hakenkreuzfahnen, die dort „wie geistlose Schwalben“ hängen. Geistlose Schwalben?

Man ertappt sich im Verlauf der Lektüre zunehmend, Adjektive und Bilder zu streichen. Bloß: Was bliebe da noch? Kein Kracht-Sound mehr, sicher, ein Gerippe, sonst nichts. So wird alles immer egaler, die rasch aufeinanderfolgenden Geschehnisse im Wechsel zwischen Japan, wo Nägeli umherirrt, und Kalifornien, wohin es seine Verlobte verschlägt, um in Hollywood Karriere zu machen.

Ach ja, und das ominöse H, das Rätsel um die letzten Vaterworte: Nägeli findet es nicht heraus. Dafür stürzt sich Ida vom ersten Buchstaben des stählernen Hollywood-Schriftzugs. Wie „kurios, denkt sie: ein H, exakt so wie in meinem Traum“. Und war nicht die Verfilmung von James Joyces Erzählung „The Dead“ gleichzeitig der letzte Film des großen Hollywood-Regisseurs John Huston? Hat das womöglich etwas zu bedeuten vor dem Hintergrund dieses Romans? Wenn, dann ist es auch egal. Und kein Aber.

Christian Kracht: Die Toten. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 212 S., 20 €.

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