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Kultur: Die Türkei in der Krise: Abgerutscht

Es gibt viele Dinge, an die Kaya Pirinci nicht denken mag. Ein Unfall zum Beispiel.

Es gibt viele Dinge, an die Kaya Pirinci nicht denken mag. Ein Unfall zum Beispiel. Oder eine weitere Anhebung der Spritpreise. Augen zu und das Beste hoffen, ist die Devise des 40-jährigen Familienvaters, der seit zehn Jahren in Istanbul Taxi fährt. Mit eigenem Wagen, einem regelmäßigen Einkommen und einer gemütlichen Wohnung gehörte Pirinci bisher zum türkischen Mittelstand, nicht zu den armen Leuten. Jahrelang konnte er seiner Frau und seinem Sohn einiges bieten, hin und wieder sogar Ferien in Antalya. Doch das war vor der Krise.

Seit dem 22. Februar ist auch für Pirinci nichts mehr, wie es vorher war. An diesem Tag musste die türkische Regierung die Kopplung der Lira an Dollar und Euro aufgeben und den Kurs der Landeswährung dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen - seitdem hat die Lira fast die Hälfte ihres Wertes gegenüber der Leitwährung Dollar verloren. Taxifahrer wie Pirinci gehören zu den größten Verlierern der Krise, weil sie auf der einen Seite wegen der ständig steigenden Spritpreise bluten müssen, die Mehrkosten aber auf der anderen Seite nicht an die Kunden weitergeben können.

Etwa 80 Prozent seiner Einnahmen, so schätzt Pirinci, gehen jetzt für Treibstoff, Reparaturen, Reifen und andere Ausgaben drauf. Da bleibt nicht viel übrig. Dabei fährt er keinen extravaganten Wagen, sondern wie die meisten anderen Istanbuler Taxifahrer einen knallgelben "Tofas", ein in der Türkei in Lizenz nachgebautes Fiat-Modell. Dennoch kann Pirinci zur Zeit froh sein, wenn er mit seinem "Tofas" nach einem harten Arbeitstag im Istanbuler Verkehrsgewühl mit einem Reingewinn von etwa elf Mark nach Hause gehen kann. "Fleisch essen wir überhaupt nicht mehr", sagt Pirinci und reibt sich am Stoppelkinn. "Wir leben von Reis und Nudeln." Die Scham eines Mannes, der stolz auf das Erreichte war und mit ansehen muss, wie er jeden Tag mehr verarmt, ist Pirinci anzumerken. Er möchte sich nicht fotografieren lassen. Die Krise hat sein Einkommen in den vergangenen zwei Monaten um schätzungsweise die Hälfte gekürzt. Der Sohn ist gerade in die Schule gekommen und braucht Bücher, Hefte und Kleidung. "Das kostet", seufzt Pirinci. Nach 20 Jahren hat er jetzt das Rauchen aufgegeben. Zigaretten kann er sich nicht mehr leisten.

Auch der Urlaub in Antalya ist nur noch ein Traum. Selbst die Miete für die Wohnung im Stadtteil Kücükyali im asiatischen Teil Istanbuls, umgerechnet etwa 180 Mark, ist für die Familie unerschwinglich geworden. Der Vermieter hat Verständnis gezeigt und dem Taxifahrer gesagt, er könne später zahlen. Doch wenn es nicht bald aufwärts geht, dann könnte es mit der Nachsicht des Hauseigentümers bald ein Ende haben. Auch das gehört zu den Dingen, über die Pirinc nicht gerne nachdenkt.

Vor zehn Jahren fing Pirinci als hoffnungsfroher Kleinunternehmer an. Nach zwei Jahren als Chauffeur für eine Baufirma in Saudi-Arabien hatte er damals genug Geld gespart, um sich daheim in Istanbul ein eigenes Taxi leisten zu können. Die Lebensdauer von Istanbuler Taxis beträgt nicht mehr als ein paar Jahre, dann muss ein Neuwagen her, doch Pirinci konnte sich immer wieder neue Wagen leisten. "Es gab nie Probleme."

Dann kam die Krise. Wie fast alle Taxis in Istanbul wird Pirincis "Tofas" mit Flüssiggas betrieben, das weit billiger ist als Normal- oder gar Superbenzin. Das schützt aber nicht vor drastischen Preiserhöhungen, denn die Türkei muss Gas ebenso wie Öl einführen und in Dollar bezahlen. Seit die Abwertung der Lira begann, hat sich der Flüssiggas-Preis fast verdoppelt. Die Taxigebühren stiegen in derselben Zeit aber kaum. Der Istanbuler Gouverneur, der neuen Gebühren zustimmen muss, lehnt Erhöhungen ab.

Taxifahrer wie Pirinci zahlen die Zeche, und zwar nicht nur wegen der gestiegenen Treibstoffpreise, sondern auch, weil sich wegen der Wirtschaftskrise weit weniger Istanbuler eine Taxifahrt leisten können als vorher. Selbst Pirinci, dessen Taxistand im wohlhabenden Stadtteil Bebek liegt, bekommt das zu spüren. "Auch die Reichen fahren jetzt lieber mit dem Bus zum Flughafen oder zum Einkaufen", hat er beobachtet. Nachts zu fahren, wie es einige seiner Kollegen wegen der höheren Nachttarife tun, hält er für unsinnug. "Nachts kriegt man ein, zwei Fuhren", sagt er. "Die meisten Leute haben einfach nicht mehr genug Geld, um trinken zu gehen." Immer häufiger beobachtet Pirinci, wie Kollegen versuchen, sich mit waghalsigen Manövern die Kunden abzujagen. Er arbeitet von morgens bis abends, sechs Tage die Woche. Doch so sehr er sich abmüht, es reicht kaum zum Überleben.

Wie es weitergehen soll, weiß Pirinci nicht. Er klammert sich an die Hoffnung, dass es in ein, zwei Monaten wieder aufwärts gehen könnte - obwohl selbst Wirtschaftsminister Kemal Dervis das ausdrücklich ausgeschlossen hat. Bis dahin wird der Vermieter vielleicht ein Auge zudrücken. "Wir sind doch ein großes Land mit großem Potenzial", sagt Pirinci, und es klingt, als mache er sich vor allem selber Mut. Seine Hoffnung schöpft er auch aus dem neuen Wirtschaftsprogramm von Minister Dervis, der die Türkei mit einer Mischung aus staatlichen Sparmaßnahmen und Privatisierungen sanieren will. Pirinci ist voller Bewunderung für den von der Weltbank ins türkische Kabinett gewechselten Minister. "Dervis ist der wichtigste Mann in der Regierung", sagt er. Pirinc fühlt sich von den Politikern und Unternehmern betrogen, die in den vergangenen Jahren mehr als ein Dutzend Privatbanken in den Bankrott trieben und dem Staat Milliardenkosten verursachten.

Aber Pirinci versucht jetzt vor allem, nach vorne zu blicken. "Ich hoffe, dass die in der Regierung bald etwas machen für die Taxifahrer, den Gaspreis senken oder die Tarife erhöhen." Sich einen anderen Job zu suchen, kommt für ihn nicht in Frage, auch weil sich seit dem Beginn der Krise die Entlassungen häufen. "Alle anderen sind ja sowieso schon arbeitslos", sagt er. Und wenn sich das Taxifahren überhaupt nicht mehr rentiert? Darüber denkt Kaya Pirinci lieber nicht nach.

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