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Kultur: Die Unbehausten

Sandrine Veyssets „Martha … Martha“ erzählt von einer brüchigen Familie am Rand der Gesellschaft

In Sandrine Veyssets „Gibt es zu Weihnachten Schnee?“ rettete ein kleines Naturwunder das Leben der Bauernfamilie. Auch „Martha … Martha“ endet in der Zusammenführung von Mensch und Natur, doch aus dem Flockengestöber ist eine rauschende Flut geworden. Deren Lockrufe sind betörend. Doch Rettung steht nicht mehr auf dem Programm, höchstens Vergessen.

Es ist eine alte Filmkritikerinnenweisheit, dass Filme, die Frauen und Wasser bedeutungsschwanger zusammenbringen, erst einmal mit Misstrauen zu begegnen ist. Veyssets Filmende gibt diesem Wissen Futter – der dick aufgetragene Symbolismus aber steht in auffälligem Widerspruch zu einem Film, der durch seinen souveränen Umgang mit dem Unausgesprochenen fasziniert.

Martha (Valérie Donzelli) ist eine jener überforderten jungen Frauen, wie sie derzeit verstärkt die Leinwand bevölkern: mal manisch, mal depressiv, immer nervös und selber noch viel zu sehr Kind, um Mutter zu sein. Während Martha sich in der Kneipe rumtreibt, übernimmt ihr Lebensgefährte (Yann Goven) die Sorge für die etwa fünfjährige Lise. Mit einem Kleinlaster klappern sie Märkte in der französischen Provinz ab, um Altkleider zu vertrödeln. Auch das Daheim wirkt wie vom Flohmarkt – eine vollgestopfte Wohnhöhle, die Nähe in Klaustrophobie verwandelt.

Es gibt Momente der Intimität und auch der Ausgelassenheit. Doch die Balance bröckelt. Das Lied, das Martha ihrer Tochter singt, handelt von Einsamkeit und Tod. Sandrine Veysset und ihre Darsteller bringen dieses Leben an der Schmerzgrenze atemberaubend präsent auf die Leinwand, ohne die Vielschichtigkeit der Figuren dem Gang der Geschichte zu opfern. Auch ohne sie ganz zu erklären. Veysset sei eine Meisterin darin, heimlich Neugierde zu wecken, sagt die französische Altmeisterin Agnès Varda zu Veyssets Film. Nun, diskret ist es nicht gerade, wie die Regisseurin ihre Fährten auslegt; raffiniert dagegen, wie sie dann ins Leere laufen.

So setzt sich schon die erste Szene mit einem verstörenden Elternbesuch Marthas als Brocken in unsere Wahrnehmung; als Rätsel auch ohne Auflösung. Veysset will ihre Figuren nicht erklären, sie agieren zu lassen, reicht ihr aus. Das funktioniert auch gut, solange sie sich im Bereich des Alltäglichen bewegen. Doch wenn Martha nach einer Vergewaltigung erst im Nichts verschwindet und dann ohne Gedächtnis in einem Klinikbett wieder auftaucht, muss man kein Wahrscheinlichkeitsfanatiker sein, um ein wenig ins Stolpern zu kommen. Vom Weiterlaufen abhalten muss einen das nicht.

fsk (OmU), Hackesche Höfe

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