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Kultur: Die unbezwingbare Marquise Inge Kellers Kleist-Lesung im Deutschen Theater

Tränen fließen. Ohnmachten bleiben nicht aus.

Tränen fließen. Ohnmachten bleiben nicht aus. Hitziger, erbarmungsloser Streit und herzzerreißende Versöhnung wechseln einander ab. Es war ein Krieg, der alles umstürzte. Und der Krieg geht weiter, um Ehrlichkeit und Lüge, um Sittsamkeit und Bigotterie. Die Einrichtung der Welt, sie ist zerbrechlich.

In seiner Erzählung „Die Marquise von O...“ (Erstdruck Februar 1808) erzählt Heinrich von Kleist von einer jungen Witwe und „Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern“, die nach einem Scharmützel zwischen russischen und italienischen Truppen im Koalitionskrieg von 1799 schwanger wird. Von einer Empfängnis weiß sie aber nichts und unternimmt Ungeheuerliches. Sie lässt ihr Missgeschick in den Zeitungen bekannt machen und sucht den „Vater zu dem Kinde“, verbunden mit einem Heiratsversprechen. Von der Familie wird die Marquise verstoßen, sie zieht sich in Einsamkeit zurück. Aber der Erzeuger, ebenfalls durch Zeitungen angemeldet, stellt sich. Welch Glück! Er ist ein ehrenhafter, standesgemäßer russischer Offizier. Während des Scharmützels rettete er die Marquise vor marodierenden Soldaten, dann schwanden ihr die Sinne. Ein Engel? Ein Teufel? Viele Monate vergehen, zwei Hochzeiten müssen gehalten werden, bis die Marquise eine Antwort findet.

Stürme der Leidenschaft entfacht Kleist in dieser Novelle, Menschen werden bis zum Äußersten getrieben, sie ringen um eine Möglichkeit, Widersprüchen standzuhalten, sich selbst zu finden und zu behaupten. Die Marquise begegnet schonungslos den Rätseln, die ihr aufgebürdet werden. Sie kämpft sich aus Niederlagen heraus, mit unbezwingbarer Kraft.

Inge Keller liest die Erzählung in einer Matinee des Deutschen Theaters (Lesefassung und Mitarbeit Hans-Martin Rahner) und entdeckt die Ironie, die hinter den Gefühlsumbrüchen der handelnden Personen verborgen ist. Selbstfindung um jeden Preis, Kampf gegen Demütigung – dieses Kleistsche Motiv wird geradezu bestürzend erlebbar.

Inge Kellers weittragende Stimme bringt die meisterlich konstruierten Sätze Kleists in ruhig dunkler Tonfärbung zur Ruhe, reißt sie dann ins Helle hoch, wenn es um den schnellen Fortgang der Handlung geht. Keller setzt Pausen, sie staunt, hält ein in einem ratlosen oder auch verschmitzten Staunen, macht das Publikum zum Partner. Und plötzlich entsteht eine Theaterszene, mit zupackendem Dialog, als wäre die Bühne mit Figuren belebt.

Diese Schauspielerin trägt die Novelle nicht nur vor, sie lebt in ihr, lauscht in sie hinein, glaubt jedes Wort, das da steht – und hält dann doch inne, mit einem fast fröhlichen Zweifel. Sie entdeckt die Landschaft der Kleistschen Prosa mit ihren Verstecken, aufmerksam und grübelnd. Bilder entstehen, die im Zuhören geprüft und vollendet werden können. Nach fast zwei Stunden, jubelnder Beifall im Deutschen Theater.Christoph Funke

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