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Ein Australier in New York. Der Schriftsteller Peter Carey. Foto: Fred R. Conrad/ New York Times

© FRED R. CONRAD/The New York Time

Kultur: Die unvereinigten Staaten

Geschichte als Kaleidoskop der Gegenwart: Peter Carey und sein Roman auf den Spuren Tocquevilles, „Parrot und Olivier in Amerika“

Nein, Peter Carey hat kein Faible für Tauben. Dass die Viecher in „Parrot und Olivier in Amerika“ eine wichtige Rolle spielen, hat politische Gründe. Der erste Vogel, sagt der 67-jährige Schriftsteller, sei zufällig in seinen Roman geflattert. „So funktioniert das immer: Ich habe eine Idee, die zu einer zweiten führt und so weiter – bis eine Kette von Motiven vor mir liegt, die ich nie vorausgeahnt hätte.“

Wir befinden uns in Careys Loft im New Yorker Stadtteil Soho. Von drei Fenstern aus blickt man auf den Broadway, doch vom Lärm dort unten ist nichts zu hören. Das Interieur fällt unter die Rubrik spartanischer Schick, der Hausherr läuft barfuß herum.

Peter Carey lebt seit 20 Jahren in New York. Der gebürtige Australier hat zehn Romane verfasst und als einziger Schriftsteller neben J. M. Coetzee zweimal den Booker Prize gewonnen: für „Oscar und Lucinda“ und „Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang“. Keins der Bücher spielt in den USA. Das tut erst dieses elfte. „Parrot and Olivier in Amerika“ basiert auf Alexis de Tocquevilles monumentaler Studie „Über die Demokratie in Amerika“ und der neunmonatigen Reise, die der französische Aristokrat 1831/32 durch die damals noch kaum vereinigten Staaten unternahm.

„Ich hatte so viele Zitate gehört, in denen sich Tocqueville positiv über Amerika äußert, dass ich das Buch einmal selbst lesen wollte“, sagt Carey, während er es sich auf einem unbequemen, aber schönen Stuhl bequem zu machen versucht. „Wie ich vermutet hatte, war Tocqueville keineswegs nur hingerissen von dem System und den Menschen hier.“ Tocqueville habe manche Schwächen der entstehenden amerikanischen Gesellschaft genau erkannt: „Er warnte vor der ,Tyrannei der Mehrheit’, und sehen Sie, was für unsägliche Politiker in diesem Land an die Macht gelangen: Leute wie George Bush und Sarah Palin.“ Tocqueville habe prophezeit, dass keine ernsthafte Kunst geschaffen werden könne, wenn Kultur dem Markt und dem Massengeschmack folge. „Sehen Sie sich die Kultur an: Anspruch gilt als Verbrechen.“

Natürlich ist „Parrot und Olivier in Amerika“ alles andere als ein Amerika-Verriss im Stickwesten-und-Schnallenschuh-Kostüm. Dafür steht der Australier Carey seiner zweiten Heimat viel zu zwiespältig gegenüber. „Der Roman sollte ein Streitgespräch sein“, sagt er. Ein Streitgespräch zwischen dem Tocqueville nachempfundenen französischen Adeligen Olivier-Jean-Baptiste de Clarel de Garmont und dessen frei erfundenem englischen Diener John Larrit alias Parrot. Beide sehen in Amerika die Zukunft – der eine den Untergang seiner Klasse, der andere die Freiheit. Carey erzählt von einer Freundschaft wider Willen und einer Gesellschaft im Aufbruch: komisch, anrührend und mit einem scharfen Blick für die Gegenwart in der Vergangenheit.

„Als Junge aus einem Arbeiterstädtchen, der ein feines Internat besuchte, habe ich viel über Klassenunterschiede gelernt“, sagt Carey. „Das war ein Ansatzpunkt für diesen Roman.“ Auch habe er sich als Zugewanderter – als solcher fühlt er sich trotz doppelter Staatsbürgerschaft noch immer – gut in die Rollen der ausländischen Beobachter versetzen können, ob in Tocqueville, Olivier oder Parrot. „Aber ich gebe zu“, sagt Carey, „hätten sich mir bei der Lektüre Tocquevilles nicht diese Verbindungstüren eröffnet, wäre ich noch immer ein australischer Autor, der an jedem Versuch, einen Amerika-Roman zu schreiben, gescheitert ist.“

Peter Careys Amerika-Roman wurde von der amerikanischen Kritik mit Lob bedacht. Niemand warf ihm Vermessenheit oder Schwarzmalerei vor. „Es sind sich alle einig, dass die amerikanische Demokratie reformbedürftig ist“, sagt Carey. „Nur macht einem allein die Vorstellung der Umwälzungen Angst, die nötig wären, um dieses festgefahrene korrupte System wirklich zu verändern.“ Er habe vor Freude geweint, als Barack Obama zum Präsidenten gewählt worden sei: „Auch wenn sich Obama weniger kompromissbereit, ein bisschen weniger als Harvard-Typ zeigen würde, wären die Widerstände, mit denen er zu kämpfen hat, doch zu stark.“ Er sei froh, dass er nicht gewusst habe, was er heute wisse, als er an „Parrot und Olivier in Amerika“ arbeitete. „Würde ich jetzt einen Amerika-Roman schreiben, käme ein verzweifeltes Buch heraus.“

„Parrot und Olivier in Amerika“ ist hingegen ein Vergnügen. Peter Carey erfindet ohnehin mit jedem neuen Buch die Welt gerne neu. Sei es, dass er in „Mein Leben als Fälschung“ von einem mysteriösen Betrüger schreibt, der nach Kuala Lumpur gejagt wird; oder dass er in „Jack Maggs“ Charles Dickens’ Roman „Große Erwartungen“ weiterspinnt. Egal welcher Ort, egal welche Epoche, welches Genre: Stets trifft Carey Stimmen und Stimmungen. Wenn er wie in „Parrot und Olivier in Amerika“ die Vergangenheit in ein Kaleidoskop der Gegenwart verwandelt, recherchiert er ausführlich. Einige von Oliviers bösesten Bemerkungen über die amerikanischen Verhältnisse stammen von Tocqueville selbst. „Ich betrachte historische Fakten als Lizenz zum Spielen, nicht als Zwangsjacke.“

Was nun die Tauben angeht: Wer hätte gedacht, wie wichtig sie einst für den Handel waren? Dass Edelleute sie auf ihren Landgütern gerne als Haustiere hielten? Dass diese „Haustiere“ über Kornfelder herfielen und die Bauern sie deshalb während der Französischen Revolution abschlachteten? Zum Abschied von Peter Carey sitzt ein Vogel auf dem Fenstersims. Es ist ein Spatz.

Peter Carey: Parrot und Olivier in Amerika. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010. 550 Seiten, 24,95 €.

Sasha Verna

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