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Kultur: Die uralten Wilden

Von El Greco bis Kippenberger: Die Fondation Beyeler in Basel gibt sich „Expressiv!“

Neidisch blickt die Museumswelt seit gut fünf Jahren auf die Schweiz, auf einen Vorort von Basel, wo sich das Sammlerehepaar Beyeler von Renzo Piano ein Schmuckkästchen bauen ließ. Fernab öffentlichen Kleckerns klotzt das Unternehmen in Riehen mit dem beispiellosen Engagement eines kultivierten Bürgersinns, der die Öffentlichkeit lockt, verblüfft und ihr – zumindest was das Engagement anbelangt – durchaus eine Freude ist. Die Ressourcen der Fondation Beyeler sind grenzenlos: eine einzigartige Architektur; finanziell gut versorgt; Leihgaben, die man den Museen der Welt großzügig gewährt, um im Gegenzug andere Meisterwerke ins Haus holen zu können; schließlich – und dabei wird neben den Museumsleuten vor allem den Politikern der Gaumen trocken: Besucherströme. Fast ständig. Täglich von zehn bis achtzehn Uhr.

Auch dieser Tage steht man wieder Schlange am Kassenhäuschen der Fondation. „Expressiv!“ ruft der Titel der Sonderausstellung von Bannern, Postern und Veranstaltungskalendern ebenso plakativ wie imperativ. Manchmal ist neben den mächtigen Lettern die gelbgesichtige „Fränzi“ abgebildet, die Ernst Ludwig Kirchner 1910/20 malte. Wer aber meint, es ginge bloß um den Expressionismus bekannter Prägung, wird eines Besseren belehrt: Denn die Ausstellung will hinter ihrem Titel keinen Stilbegriff, sondern eine Haltung entdeckt haben – oder, wie Markus Brüderlin eloquent hinzufügt: einen „zeitlosen Zeitgeist“. Nun ist es ja das Wesen des zeitlosen Zeitgeists, dass man sich schwer tut, ihn zu datieren, und so lässt man ihn konsequenterweise ganz einfach irgendwo beginnen und nirgends aufhören (höchstens und zwangsläufig in der Gegenwart). Und wenn man gar nichts falsch machen will, spult man diese stupende Chronologie in zehn Kapiteln ab. Ganz so, wie man sich die Kunstgeschichtsschreibung eben vorstellt.

In diesem Sinne beginnt das zeitlos Expressive in der Schau mit El Grecos um 1600 entstandener „Verkündigung“. Im Kabinett nebenan ist ein kleines „Capricho“ Francisco de Goyas (1797 - 99) zwischen Holzschnitte Edvard Munchs gemischt, gefolgt von – natürlich – van Gogh und den – was Wunder – ganz unterschiedlich expressiven Gesten eines James Ensor, Ferdinand Hodler, Lovis Corinth oder einer Paula Modersohn-Becker. Sie alle werden kollektiv zu Vorläufern jenes Expressionismus erklärt, der dann doch im Zentrum der Schau zu seinem Recht kommt.

Dort hängt auch Kirchners „Fränzi“. Die schreienden Farbpaletten André Derains oder Maurice de Vlamincks führen schnurstracks hinüber zu Kandinskys ersten „Improvisationen“, zu Noldes „Erregten Menschen“ (1913) und Franz Marcs ein Jahr zuvor entstandenem „Hund vor der Welt“. Schade, dass die Quotenschweizer Hermann Scherer – Freund und künstlerischer Weggefährte Kirchners – sowie später Max Gubler und Varlin nur so spärlich vertreten sind.

Stattdessen geht es weiter in der Chronik an allem vorbei und über alles hinweg, was an Rang und Namen dieser Schau „Ausdruck“ verleihen könnte: Auf Picasso und den alles andere als expressiven Paul Klee folgen Max Beckmann und Otto Dix in einem Atemzug mit Max Ernst und Chaim Soutine, weiter mit Dubuffet, de Kooning und Francis Bacon bis hin zu Andy Warhol! Ja, wirklich! Wo es doch kaum einen Künstler gibt, der weniger expressiv wäre, als der unbestrittene König des Pop. Andererseits weiß man schon im Voraus, was einem im zeitgenössischen Kapitel widerfahren wird. Im Untergeschoss trifft der Besucher auf die wilden Malerfürsten Lüpertz und Baselitz, flankiert von Kiefer und Clemente, dem einsamen Vertreter der italienischen Trans-Avantguardia.

Dass hier, in Kapitel neun unserer Kunstgeschichte, noch einmal Werke von Kirchner und Kokoschka auftauchen, erschien den Verantwortlichen offensichtlich doch zu gewagt, weshalb sie dem Ausrutscher einen erklärenden Text zur Seite gestellt haben: „Zwanzig Jahre nach dem Durchbruch der Neoexpressionisten“, steht dort geschrieben, „zeigen wir erstmals eine Annäherung der Jungen an die Großväter.“ Während man die Herren Kippenberger, Dahn und Oehlen in einem weiteren Erklärungsversuch gar zu den Urgroßenkeln stilisiert, enden Ausstellung und Kapitel zehn in einem wahrhaft kapitalen Bock: Bruce Naumans Videoarbeit „Anthro/Socio“ aus dem Jahre 1992. Hier wird den Besuchern vollends der Kopf verdreht – und zwar solange, bis sie dieser schwindeligen Chronik des Expressiven glauben. Und doch werden sie kommen und Schlange stehen. Fast ständig. Täglich von zehn bis achtzehn Uhr.

Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis 10. August. Katalog 58 Franken.

Ralf Christofori

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