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Kultur: Die Vergangenheit, die nicht vergeht

Rettung im Panzer: Peter Wapnewski hat seine Lebenserinnerungen verfasst. Heute stellt er den ersten Teil in Berlin vor

In der kleinen Republik der Geister, der Geistreichen und Schöngeister ist Peter Wapnewski eine rarer Vogel. Man könnte ihm leicht etwas Paradiesvogelhaftes nachsagen – ein Gelehrter, der gleichermaßen ein homme de lettres von Graden ist, ein Vertreter der abgelegenen Spezies der Altgermanisten, der in der intellektuell interessierten Öffentlichkeit zugleich als Literaturkritiker, Wagner-Interpret und Rhetoriker brilliert. Der überhaupt mit seiner Bildung und seiner Rede, die die Causerie einschließt, Glanz in unsere kulturellen Hütten bringt. Nun legt er seine Erinnerungen vor. Und sie sind ganz anders als gedacht: ein ungewöhnlich in sich gekehrtes, hoch sensitives Buch, der Bericht von der heillosen Traumatisierung einer ganzen Generation, das Zeugnis einer Verletzung.

In Wapnewskis Fall hat dieses Zeugnis seinen beklemmend konkreten, nachgerade mythisch-symbolhaften Kontext. Als Neunzehnjähriger hat er ein Auge verloren, Folge der Verwundung in einem Panzer an der Ostfront. Er setzt das Datum, das sein ganzes Leben mitbestimmt, knapp und unlarmoyant notiert, an den Anfang seiner Erinnerung. Den Atem verschlägt einem die Deutung, denn sie ist nicht ohne einen makabren Zug: dass nämlich der furchtbare Verlust ihm das Leben geschenkt habe. Er habe ihn davor bewahrt, wie die große Mehrheit seiner Generation vom Krieg verschlungen zu werden. Da spürt man den Abgrund, an den diese Erinnerungen rühren, die nicht auf die Konfession oder die individuelle Innensicht aus sind, sondern auf die Konfrontation mit ihrer Zeit. Die „Zeit ist der Held“, heißt es: ein trauriger Held.

Dazu trägt bei, dass bei der Herausgabe dieser Erinnerungen ein Unglück passiert ist. Der Verlag hat sich – weshalb auch immer – entschlossen, zunächst nur ihren ersten Teil zu veröffentlichen; er reicht bis 1959, da ist der Autor noch nicht vierzig Jahre alt. Das Buch gibt also das Porträt des Autors als junger Mann, der große Bogen dieses Lebens, der inzwischen über die Achtzig hinausgeführt hat, tritt nur halbiert in Erscheinung. Das verschiebt die Proportionen dieser Autobiografie. Nur im Vorwort wird der Wapnewski, den die Republik kennt, mit ein paar Sätzen präsent.

Es beginnt mit einer bürgerlichen Kindheit im bürgerlichen Kiel – der früh gestorbene Vater, die als Schauspielerin ein bisschen aus der Regel fallende Mutter treten zurück zugunsten dieses Genre-Bildes aus der deutschen Vergangenheit. Das Verblüffende daran ist die Intensität, mit der Wapnewski diese frühen Jahre in Geräuschen und Blicken wahrnimmt. Allerdings keine heile Kindheitswelt: dem erinnerungsfreudigen Ins-Gedächtnis- Rufen der Straßenbahn mit offenem Perron, der kurzen Hosen und langen Strümpfe und des brüchigen Choral-Gesangs von Lehrer Lorenzen ist durchaus Distanz beigemischt, sogar eine leichte Verschiebung ins Panoptikumhafte. Die Biederkeit dieser Zwanzigerjahre ist einem nicht recht geheuer.

Wapnewskis scharfer, unnachsichtiger Blick wird zum aufklärerischen Ereignis in den Jahren, die folgen. Es sind Jugendjahre im Dritten Reich, und seine Absicht, das „Binnenklima der Lebensformen“ hinter der braunen Fassade zu beschreiben, gerät bestürzend eindrucksvoll – ein Beitrag zur Enthüllung dieser nie genug erklärten Zeit, in der ein ganzes Volk auf schreckliche Weise in die Irre ging. Wapnewski quält sich selbst mit der Frage, ob es überhaupt möglich ist, späteren Generationen zu erklären, dass es – zum Beispiel – so „etwas wie kleines privates Heldentum“ war, bei Bäcker Schulte mit „Guten Morgen“ zu grüßen, wo an der Ladentür „Heil Hitler“ gefordert wurde. Aber er kommt mit seinem Vorhaben schon ziemlich weit.

Wapnewski fingiert keinen Widerstand, wo keiner war. Seine Erzählung schont die Deutschen nicht, aber sie macht vorstellbar, wie sich diese Halbwüchsigen, deren Jugend unter das, so Wapnewski, „Diktat der Diktatur“ geriet, in der Mischung von Anpassung und Gleichgültigkeit einrichteten, wie sich der „Mehltau der Lüge“ über sie legte und wie sie ihre „Tunnel“ in das gruben, was sie „wohl als Freiheit verstanden“ – nächtliche Café-Besuche, harmlose, verharmlosende Lektüre. „Man nahm hin. Man machte sich frei in sparsamen Augenblicken der unverhofften Übereinstimmung.“ Wer ist „man“? Vermutlich doch eine schmale Schicht. Aber es gab sie, hier wird sie bezeugt, und das Psychogramm, das Wapnewski von ihr zeichnet, zieht etwas ins Licht von dem großen unbegreiflichen Skandal dieser Zeit.

Aber das ganze Gewicht, das auf dieser Generation lastet, wird spürbar erst mit dem Auftritt der blutigen Macht über diese Epoche, dem Krieg. Arbeitsdienst, dann – nach dem Schnell-Abitur – Ausbildung und Fronteinsatz: eine niederdrückende Maschinerie, in Bewegung gehalten von Brutalität, Menschenverachtung, bestenfalls falschem Pathos und mehrheitlich abstoßend rohem Personal. Für Wapnewski geht dieses Kapitel rasch über in den langen Weg durch die Lazarette. Aber es gehört auch zur bedrückenden Grundmelodie dieser Erinnerungen, dass es die eineinhalb Krankenhaus-Jahre in Berlin sind, die für den jungen, fürs Leben gezeichneten Mann zum „Initiationserlebnis“ einer anderen Welt werden.

Wapnewski beschreibt sie – Begegnungen im kriegserschütterten Berlin, Freundschaften, die Universität – als eine Gegenwelt. Die kurzen Abschnitte über den Schriftsteller Horst Lange und seine Frau, die Lyrikerin Oda Schäfer, wie später der über die Studienmonate in Freiburg liegen wie Quellgründe für ein anderes Leben im düsteren Bericht: ein „Zwischenreich“, Bücher und Menschen, Gedanken und Gedichte, Autoren und Professoren, das „materiell kaum mehr existierte und doch als eigene Wirklichkeit zu überdauern bestimmt war“. Und wie eine Erscheinung ruft er den Freiburger Sommer 1944 zurück: ein berückendes Gewinde „von Mangel und Sommerwind“, im Hintergrund die seitenlangen Gefallenenanzeigen in den Zeitungen.

Diese Autobiographie, mit allen Mitteln von Wapnewskis hohem Kunstverstand geschrieben, bildungsgesättigt, virtuos auch das lapidare Register spielend, doch mit bestimmter Gedankenführung - sie wirkt mit ihrer Kern-Botschaft doch wie ein Schlag. Die Vergangenheit „lag hinter uns“, hebt Wapnewski zur Nachzeichnung seines ersten Nachkriegs-Semesters an und stoppt sogleich: „Sie lag scheinbar hinter uns. In Wahrheit lag sie auf uns. Wie sie noch heute auf uns liegt.“ Der schlimme Befund durchtränkt das Buch – oder vielmehr: In ihm sammeln sich die Situationen und Schicksale, Ereignisse und Erfahrungen, die sich zu diesem Buch zusammenfügen. Zu einem Kunstwerk, wie Wapnewski hofft? Gewiss, aber auch zu einem denkwürdigen document humain.

Der Schluss ist schon eine andere Geschichte – der Beginn der akademischen Karriere, die Heidelberger Assistenz- und Privatdozentenzeit, der Ruf nach Harvard, den er ausschlägt. Aber ist die Geschichte, die der nächste Band erzählen wird, wirklich eine andere? Man ist bewegt von dem Gedanken, wie die beiden Bücher, die beiden Leben sich zu einem zusammenfügen werden.

Peter Wapnewski: „Mit dem anderen Auge. Erinnerungen 1922 – 1959“. Berlin Verlag, Berlin 2005, 246 Seiten, 24 €. Der Autor stellt seine Autobiografie heute in der Akademie der Künste (Pariser Platz, 20 Uhr) vor.

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