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Der Volksmund nennt sie „Always Ultra“. Die Friedensbrücke über den Fluss Kura in Tiflis.

© Konstantin Kokoshkin/picture alliance

"Die vergessene Mitte der Welt": Stephan Wackwitz und die Poesie des Verfalls

"Die vergessene Mitte der Welt": Stephan Wackwitz schwärmt vom südlichen Licht Georgiens.

Architektur spricht. Sie erzählt von Rausch und Ruhm, Verblendung und Verfall. In einer sumpfigen Ebene südwestlich der georgischen Hauptstadt Tiflis ist in den fünfziger Jahren die stalinistische Musterstadt Rustawi aus dem Boden gestampft worden. Um ein Stahlkombinat für die Verhüttung des aus Aserbaidschan stammenden Eisenerzes herum entstand eine Siedlung nach dem Prinzip der „Bandstadt“, bei der die Gebäude wie in einem langen Theaterprospekt beidseits der Hauptstraße aufgereiht sind. Als Stephan Wackwitz Rustawi besucht, empfindet er „allerlei oberitalienisch-fünfzigerjahrehafte Anmutungen“, am Zentralplatz angekommen, glaubt er sich „in einem Gemälde der pittura metafisica“ zu befinden.

Aus seinen Eindrücken macht der nostalgieselige Stadtwanderer sogleich eine Theorie: „Nachdem der Sozialismus in der Realität niemandem mehr gefährlich werden kann, tritt seine ideologische Ausgedachtheit als poetische Kraft hervor.“ Architektur, räsoniert er weiter, könne sich im Lauf der Zeit „in etwas den ursprünglichen Absichten ganz Entgegengesetztes“ verwandeln. Während die einstige Musterstadt zerfiel, ließ Präsident Saakaschwili im Sommer 2012 in Tiflis etliche Prachtbauten hochziehen, darunter ein pilzförmiges Behördenzentrum nach Plänen des deutschen Stararchitekten Jürgen Mayer H. und eine elegant geschwungene Brücke über den Fluss Kura, die im Volksmund „Always Ultra“ genannt wird. Der Präsident sah sich im Wahlkampf von der Opposition bedrängt, Wackwitz deutet die Bauoffensive als „politisches Nervositätssymptom“. Er schildert den Neuerungsfuror unter der Überschrift „Architektonische Tragikomödien“.

Das Schreiben von Essays ist eine Kunst, und kaum ein anderer deutscher Autor beherrscht sie so gut wie Stephan Wackwitz. In seinen in der Ich-Form geschriebenen Texten geht die Erkenntnis immer von der Anschauung aus, Erinnerungen, Erlebnisse und Reflektionen verdichten sich zu einer Form von Literatur, von der ein süchtigmachender Sog ausgehen kann. So vergleicht er in seinem meisterlichen „Bildungsroman“ „Neue Menschen“ seine eigene Vergangenheit in einer K-Gruppen-Sekte mit der NS-Verstrickung seines Vaters und macht daraus eine Studie über die Utopien und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.

In seinem neuen Buch erklärt Wackwitz die „surrealistische Spaziergangskunst“ zu seinem Vorbild und zitiert aus Louis Aragons Klassiker „Le Paysan de Paris“, dass sich „die Wahrheit im gesellschaftlich und ästhetisch Verworfenen ausspricht“. Passenderweise sammelt Wackwitz mit seiner Kamera Ansichten von oftmals ruinösen sowjetischen Bushaltestellen, in denen er mitunter „ironische Tempelarchitekturen“ sieht.

Wackwitz: Flaneur und Kletterer.

Der Kultur- und Sozialforscher Wackwitz ist ein Flaneur, aber auch ein Kletterer. Gerade als Leiter des dortigen Goethe-Instituts in Tiflis angekommen, erklimmt er halsbrecherisch bei einem Sonntagsspaziergang einen von dem Fernsehturm bekrönten Berg und stößt auf einen Vergnügungspark mit verlassenem Riesenrad, Schießbuden und einem „American Diner“, der einem „Erinnerungstempel für Elvis und Priscilla Presley“ gleicht. Dieses Aufeinandertreffen von Absurdität und Poesie erinnert den Besucher an die schwarzweißen Filme von Fellini aus den frühen sechziger Jahren, einer Zeit, in der Italien in der gleichen Weise zwischen Mittelalter und Moderne gestanden habe wie Georgien heute. Der Text ist eine einzige Liebeserklärung.

Wie wenig wir über die aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten wissen, zeigt sich gerade in der Krise um die Krim und die Ukraine. Wackwitz datiert diese Ignoranz noch weiter zurück: „Wir haben die halbe Welt vergessen seit 1918.“ Dabei sind Georgien, Aserbaidschan und Armenien, durch die der Autor für das Buch gereist ist, traditionell eng mit Süd- und Zentraleuropa verbunden. Kolchis zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus war unter Nero eine römische Provinz. Vespasians Baumeister entwarfen die Befestigungsanlagen der antiken Königsresidenz Armasisziche. Und seit Puschkin und Lermontow gilt Georgien als das russische Italien.

Wackwitz schwärmt vom bis in den Dezember hinein vorherrschenden südlichen Licht und fragt sich, wie ausgerechnet er als jahrzehntelanger Amerika-Fan sich in diese Landschaft verlieben konnte. Er attestiert sich „eine Art Moderne-Kater“. Und sieht das futuristische Gestänge, in dem am Ende von Fellinis Film „8 1/2“ alle Figuren herabsteigen, nicht aus wie der Fernsehturm von Tiflis?

Stephan Wackwitz: Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014. 248 Seiten, 19,99 €.

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