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Kultur: Die Wahrheit hinter den Worten

Stalin blickt grimmig von einer Wäscheleine herab.Unter ihm ragt ein windschiefer Weihnachtsbaum empor, an dem rote, gelbe und grüne Lämpchen trostlos blinken.

Stalin blickt grimmig von einer Wäscheleine herab.Unter ihm ragt ein windschiefer Weihnachtsbaum empor, an dem rote, gelbe und grüne Lämpchen trostlos blinken.Links steht ein Eisenbett, rechts ein Eßtisch, dazwischen: Flaschen, Kleidungsstücke, Müll.Ganz vorne hocken vier Frauen, die unter ihren Pelzmänteln und Kopftüchern kaum als solche zu erkennen sind.Sie singen "Hänschenklein" mit schaurig-schrillen Kleinmädchensopran, dann springen sie auf, tippeln einmal um ihre Stühle, setzen sich wieder, grummeln, fuchteln, schimpfen.Die Frau ganz rechts, die in breitbeiniger Machopose dasitzt, faucht ihre Nachbarin an: "Was faßt du mich an? Biste schwul oder was?!" "Stop, Halt!", unterbricht jetzt eine energische Stimme aus dem Off ihren Streit, "das muß noch aggressiver klingen! Ihr müßt Kerle sein!"

Probenarbeit im Prater.Sechs Schülerinnen und Schüler des "Europäischen Theater Instituts" spielen das Stück "Doppel-A", das auf Motive des Einakters "La 5 in der Luft" von Alexej Schipenko zurückgeht.Für die Schauspieler, die seit knapp drei Jahren die Berliner Schauspielschule besuchen, ist das 30-Seiten-Drama eine echte Herausforderung.Innerhalb von Sekunden müssen sie von einer Rolle in die andere springen.Wer eben noch als Oma über die Bühne humpelte, muß gleich danach ein Kind auf der Parkbank und anschließend ein Türke in der U-Bahn sein.Eine knappe Woche vor der Premiere ist Regisseur Valerie Bilchenko offenbar schon ziemlich zufrieden mit der Leistung seiner Schützlinge.Gelassen sitzt er am Rand und greift nur gelegentlich in das Spiel ein."Etwas lauter bitte!", ruft er dann, oder: "Jetzt stehen alle auf!" Alles, was er sagt, wird von einer neben ihm hockenden Dolmetscherin übersetzt.Bilchenko ist Russe, Deutsch spricht er nur bruchstückhaft."Ich lerne von meinen Schülern mindestens genauso viel wie sie von mir", sagt er.

Es wird viel gekreischt, gerauft und gezankt an diesem Spätnachmittag im Prater."La 5 in der Luft", 1990 in Darmstadt uraufgeführt, ist Alexej Schipenkos Abrechnung mit dem Realsozialismus.Das Stück spielt in einer runtergekommenen Moskauer Altbauwohnung: eine Familienhölle.Inmitten von Dreck und Unrat lebt eine alte Mutter mit ihrem Sohn.Die Mutter ist an ihr Bett gefesselt, der Sohn trinkt.Sie belauern und beschimpfen einander, um sich zwischendurch wieder zu versöhnen.Am Ende ist die Mutter tot.Das Drama ist eine ins Grelle überzeichnete Wirklichkeitsbeschreibung, eine mit Beckettschen Humor durchsetzte Schwarze Komödie - ein Endspiel."Es geht darum, wie Menschen unter unmenschlichen Bedingungen überleben.Und darum, wie eine Liebe unter solchen Umständen deformiert wird", sagt Bilchenko.Für "Doppel-A" hat er die Vorlage "La 5 in der Luft" so zurechtgestutzt, daß nun sechs Schauspieler in dem Zweipersonenstück auftreten können.Autor Schipenko, mit vier Uraufführungen allein in diesem Jahr ein Shooting Star der deutschen Theaterszene, hat gegen derlei Eingriffe nichts einzuwenden."Er hat ja genug Stücke.Da muß er mit einem Text nicht geizen", grinst Bilchenko.

Mit dem im Prater vorherrschenden Volksbühnen-Klamauk hat Bilchenko nichts am Hut.Er sei ein "Realist", sagt er, einer "konservativen Ästhetik" verpflichtet.Mit Schipenko ist er befreundet, seit er vor fast zehn Jahren in Rußland zum ersten Mal ein Stück von ihm inszenierte.Zum Theater kam der heute 39jährige auf Umwegen.Schon in der 4.Klasse flog er von der Schule, weil er Solschenizyn verteidigt hatte.Später bekam er keinen Platz an der Moskauer Mathematikerschule, weil er einen systemkritischen Aufsatz schrieb.Bilchenko schlug sich als Bauarbeiter durch und bewarb sich auf der Theaterschule, "weil ich sowieso nicht wußte, was ich machen sollte." Anschließend arbeitete er als Schauspieler in Moskau, ab 1989 führte er auch Regie.Aus der Ukraine, wo er Tschechow und Volksstücke inszeniert hatte, kam er vor anderthalb Jahren nach Berlin."Die Situation hatte sich für mich erschöpft.Die Theater dort haben kein Geld, ich kam nicht von der Stelle." Aber auch in Berlin war es nicht leicht für ihn, Fuß zu fassen.Zwei Stücke hat er hier erst herausgebracht, darunter Schipenkos Farce "Poljot" in der DT-Baracke.Ist es schwer, Theater in einer Sprache zu inszenieren, die man nicht versteht? "Nein", antwortet Bilchenko, "was mit einem Menschen passiert, hat doch nicht in erster Linie damit zu tun, welche Worte er spricht."

Premiere von "Doppel-A" heute um 20 Uhr im Prater.Weitere Vorstellungen vom 17.bis zum 20.Dezember

CHRISTIAN SCHRÖDER

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