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Kultur: Die Welt auf 15000 Seiten

freut sich über die Rückkehr des Faktischen Es muss ein beruhigendes Gefühl sein, von seinem Vater ein paar kanadische Wälder in der Größe Bayerns zu erben. Man könnte sich zurücklehnen, den Wohlstand verwalten und einen ewigen Urlaub mit Kaviar und Champagner organisieren.

freut sich über die Rückkehr des Faktischen Es muss ein beruhigendes Gefühl sein, von seinem Vater ein paar kanadische Wälder in der Größe Bayerns zu erben. Man könnte sich zurücklehnen, den Wohlstand verwalten und einen ewigen Urlaub mit Kaviar und Champagner organisieren. Nicht aber, wenn man Harry Graf Kessler heißt.

Denn Kessler, eine Schlüsselfigur für die Kultur der Weimarer Republik, investiert sein Geld in Kunst. Er kauft Cézanne, Lovis Corinth und Emil Nolde. Als Museumsleiter und Gründer seines Verlages Cranach-Presse will er Weimar in ein Zentrum der Moderne verwandeln. Dann macht ihm die nationalistisch orientierte Heimatkunstbewegung einen Strich durch die Rechnung. „Moderner Querkopf, total verdreht“, grummelt auch Kaiser Wilhelm II. Aber Kessler (1868-1937) ist nicht nur ein freigiebiger Kunstmäzen. Der feinsinnige Homosexuelle ist ein polyglotter Mann von Welt, ein Diplomat und der größte Kosmopolit, der je gelebt hat – sagt W.H. Auden. Über den Ersten Weltkrieg wird er zum engagierten Pazifisten und entwickelt Ideen zu einem Völkerbund, die an die UNO denken lassen. Nach der Machtübernahme der Nazis geht der „Rote Graf“, wie man ihn mittlerweile nennt, ins Exil nach Mallorca und Frankreich. Kessler hat in dem amerikanischen Historiker Laird McLeod Easton einen kompetenten Biographen gefunden („Der Rote Graf. Harry Kessler und seine Zeit“, Klett-Cotta). Mit ihm unterhält sich der Literaturkritiker Tilman Krause heute im Literaturhaus (Fasanenstr. 23, Charlottenburg, 20 Uhr).

Kesslers 15000-seitiges Tagebuch, das ebenfalls gerade ediert wird, würde Michael Rutschky vielleicht zu den „Büchern ohne Familiennamen“ zählen. So jedenfalls hat er in einem „Merkur“-Aufsatz einmal die schwer klassifizierbaren Texte Kracauers, Benjamins und Jüngers genannt. Und natürlich schreibt Rutschky selbst Bücher, die zwischen allen Registern schillern. Ob er „Unterwegs im Beitrittsgebiet“ ist, in „anthropologischen Feuilletons“ die „Meinungsfreude“ feiert, die Stadt Berlin „als Roman“ liest oder erkundet, „wie wir Amerikaner wurden“ – Rutschky ist ein Spezialist für alles, „was man zum Leben wissen muss“ (um nur einige seiner Buchtitel anzuführen). Seit „Erfahrungshunger“, dem maßgeblichen Buch über die Siebzigerjahre, ist er zum vielleicht wichtigsten Essayisten und Chronisten der Bundesrepublik geworden. Und er ist die Idealbesetzung, wenn im Brecht-Haus (Chausseestr. 125, Mitte) die Reihe „Poetik des Faktischen. Vom erzählenden Sachbuch bis zur Doku-Fiktion“ startet. Dort diskutiert Rutschky am 20.10. (20 Uhr) mit Annett Gröschner und Stephan Porombka. Und keiner soll sagen, es gebe heute keine Universalisten mehr.

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