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Kultur: Die Welt in 20 Kapiteln

Zurück nach Berlin: Mit 75 Jahren bekommt Günther Uecker eine große Werkschau im Gropius-Bau

Geduscht hat er hier wohl nie. Geschlafen auch nicht. Und wahrscheinlich auch nicht gearbeitet in dem Raum, den Günther Uecker in Berlin sein „Atelier“ nennt. Zu aufgeräumt ist sie, die kleine Ladenwohnung in Berlin-Wedding, in der der Düsseldorfer Nagel-Künstler seit 15 Monaten sein Pied-à-terre in der Hauptstadt hat. Was außerdem stutzig macht: Die Dekoration der Räume ist noch immer die von vor eineinhalb Jahren, als die Künstlerwerkstatt „eröffnet“ und also ganz untypisch für eine Arbeitsstätte der Öffentlichkeit übergeben wurde: Stoffbahnen hängen an den Wänden, bemalt mit Texten von Jürgen Habermas; ein vereinzeltes jener Objekte steht am Boden, in denen hunderte gleichgroßer Zimmermannsnägel stecken; daneben einige Kataloge auf der Heizungsbank: Günther Uecker nutzt den Raum in der Gartenstadt Atlantic eher als Showroom, für die Nachbarschaft und für offizielle Termine.

Und doch ist das „Atelier“ mehr als nur ein PR-Gag: für den Künstler, der im März seinen 75. Geburtstag feiert, ist die Wohnung in Berlin auch eine späte Heimkehr. Und ein praktischer Standort, um von hier aus die Retrospektive vorzubereiten, mit der ab 11. März sein Gesamtwerk in Berlin gezeigt werden soll: mit einer Werkübersicht im Martin-Gropius- Bau, einer Installation in der oberen Halle der Neuen Nationalgalerie und einer Sonderausstellung im Neuen Berliner Kunstverein (NBK), die Ueckers selten gezeigten Aquarellen gewidmet ist.

Berlin sei für ihn immer ein Bezugsort gewesen, seit dem Studium an der Kunsthochschule Weißensee, die er ab 1949 besuchte, seit der Flucht nach West-Berlin 1953, erzählt der Künstler dann auch höchst aufgeräumt mit einem Blick aufs Schneetreiben vorm Fenster. „Psychologisch war ich in Berlin immer zu Hause. Nun bin ich es auch physisch wieder.“ Damals, in den ersten Jahren nach dem Krieg, habe er in den Trümmerbergen hinter der Nationalgalerie gehaust: einfach zwei Türen aneinander gelehnt, und fertig war der Raum. Heute ist er wieder regelmäßig in der Stadt und träumt davon, endlich einmal die Verwandten im Osten Berlins aufzusuchen. Die Erinnerungen kommen in rascher Folge: die langen Wanderungen durch die kriegszerstörte Stadt, die Schutthalden auf den Straßen, die Nachmittagssonne, die durch die zerborstenen Scheiben auf die Reste dessen viel, was einmal ein Hof, ein Hinterhaus gewesen war. Und doch, trotz aller Ruinenwüstenei: „Eine echte Großstadt. Das konnte man spüren, an jeder Ecke.“

Heute spürt Uecker davon nicht mehr viel. Die jüngere Kunstszene, gut: Er ist mit Judy Lybke gut befreundet, zeigte in dessen Galerie Eigen + Art in Leipzig 1990 mit „Wer wirft den ersten Stein?“ seine erste und letzte Einzelausstellung in der noch bestehenden DDR. Jetzt beobachtet er dessen Schützlinge, vor allem die Berliner Malerschule, mit Interesse. Aber die Stadt selbst? Man brauche nur einmal auf den Fernsehturm zu steigen, wie unlängst zu einer Feier mit Peter Raue, erzählt der Künstler, und dann sieht man: Brachflächen überall, wie Zahnlücken. Großstädte, das sind für Günther Uecker Pressgebilde wie Teheran, Istanbul, Kairo. Berlin ist Provinz.

Provinz auch darin, dass es bis heute, bis zu seinem 75. Geburtstag, dauerte, ehe die Stadt dem international gefeierten Künstler eine Retrospektive ausrichten wollte. Es waren vor allem zwei Fürsprecher, die seit Jahren für Uecker in Berlin kämpfen: Alexander Tolnay, der 1994 seine erste Ausstellung im Neuen Berliner Kunstverein Ueckers in China verbotenem „Brief an Peking“ widmete, ist nun wieder Veranstalter, Kurator und Spiritus Rector der Ausstellung. Und Dieter Honisch, langjähriger Direktor der Nationalgalerie und Uecker-Biograph, der schon einen Großteil der Katalogtexte geschrieben hatte, bevor er im vergangenen Dezember überraschend verstarb. Er war es, der Uecker einmal den „Wanderer zwischen zwei Welten“ genannt hat.

Eine Woche vor Ausstellungsbeginn sitzt dieser Weltenwanderer im weißen Arbeitsanzug recht entspannt im Gropius-Bau. Noch sind nicht alle Werke da, die in tonnenschweren Transporten aus Düsseldorf herangekarrt wurden. Doch nimmt die Ausstellung, die Uecker gemeinsam mit Tolnay auf 20 Kapitel konzipiert hat, Gestalt an. Eine Retrospektive, nein, eine Retrospektive sei das nicht, verwahrt sich der Mann, den viele nur wegen seiner Nagelobjekte kennen, dafür sei das Gebäude, immerhin Berlins größtes Ausstellungshaus, zu klein. Stattdessen ordnet man nach Werkgruppen: „Sehen Sie“, erläutert Uecker, und blättert in dicken, cremefarbenen Mappen, „hier haben wir alle Werke in Kapiteln auf die Räumen verteilt.“ Die Kapitel heißen „Notationen“, „Benagelte Objekte“, „Aggressive Reihungen“, „Zum Schweigen der Schrift“ oder „Aschebilder“, und in jedem Raum liegt eine säuberliche Uecker-Skizze mit der Hängung und Aufstellung von Bildern und Objekten.

Das beginnt 1955, mit den ersten Fingermalereien nach der Flucht aus der DDR, die Loslösung vom Informel, und geht bis heute: das jüngste Werk, „Friedensgebote“, wurde vor zwei Wochen fertig. Drei Schrifttücher auf Hebräisch, Arabisch, Latein, Texte aus Thora, Koran und Bibel, dazu drei Objekte, ein galgenartiges Tor, mit in Tücher gewickelten Gewichten, ein Kreis, ein umhülltes Kreuz. Der Dialog zwischen den Religionen: sein großes Thema. Uecker bekennt: „Immer mehr begreife ich Rückbindung, so die direkte Übersetzung von ,Religion’, als Grundlage meines Lebens.“ Unter „Rückbindung“ fallen die Arbeiten der letzten Zeit: Der Andachtsraum im Reichstag von 1998, die Ausstellung „Dialog“, demnächst in Istanbul und die „Matthäuspassion“ an der Deutschen Oper, für die Uecker das Bühnenbild geschaffen, und die vor zwei Jahren in Tel Aviv gastiert hat – der Künstler war vor Rührung „überflutet mit Tränen“.

DDR, Peking und Israel, Afrika und die Indianer, eine Russland-Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, das Reaktorunglück in Tschernobyl, Gedenken an die „Reichskristallnacht“, zuletzt der Irakkrieg und die Anschläge in Istanbul: Fünfzig Jahre Uecker-Arbeiten, das ist fünfzig Jahre Zeitgeschichte. „Mir wurde jetzt erst, bei der Planung, bewusst, dass das doch eine ungeheuer lange Lebenszeit ist“, gesteht der Künstler halb kokett seine „Beklommenheit“ vor der großen Werkschau, und fügt hinzu: „Ich komme mir vor wie ein Sack voller Vergangenheit, aus dem beim Öffnen alle Empfindungen herausfallen.“

Uecker-Retrospektive: ab 11. März, Martin-Gropius-Bau, Neue Nationalgalerie sowie Neuer Berliner Kunstverein.

Christina Tilmann

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