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Kultur: „Die Weltflucht ist mir nicht gelungen“

Heute wird Kenzaburo Oe 70 Jahre alt. Ein Gespräch über den Tod der Kultur, Thomas Manns Genie, Religion und Gewalt

Herr Oe, was haben Sie sich heute, an ihrem Geburtstag, vorgenommen?

Morgens werde ich an meinem neuen Roman „Auf Wiedersehen, meine Bücher!“ schreiben, dem dritten und abschließenden Band der Trilogie, die mit „Der Wechselbalg“ begann und mit „Das traurige Kind“ weitergeführt wurde. Nachmittags will ich die „Four Quartets“ von T.S. Eliot lesen, auf die ich mich darin beziehe. Und am Abend will ich zu einem Vortrag der „Vereinigung zum Erhalt des PazifismusArtikels unserer Verfassung“ gehen, die ich im letzten Jahr gemeinsam mit dem Dramatiker Hisashi Inoue und dem Literaturkritiker Shûichi Katô gegründet habe.

Feiern wollen Sie nicht?

Ich will dann im Juni lieber den Geburtstag meines geistig behinderten Sohns Hikari feiern. Hikari hat sechs Jahre lang nicht mehr komponiert und sich stattdessen mit dem Studium von Musiktheorien beschäftigt. Nun kommt seine neue CD heraus, „Hikari Oe de nouveau“. Wir wollen seine neuen Stücke aufführen lassen, und ich will einen Vortrag darüber halten, ob sich in Japan die Kultur durch die Literatur wieder beleben lässt. Momentan verkünden die japanischen Kritiker unisono den Tod der Literatur. Doch ich finde, man müsste in Japan eher vom Tod der Kultur sprechen. Im Kriegschaos vor sechzig Jahren war es genau umgekehrt: Es war eine Zeit, in der nur der Wille der Menschen zur Kultur lebte.

Dafür sehen Sie heute starke nationalistische Entwicklungen.

Ja, die konservativen Politiker unseres Landes hetzen dazu auf. Sollte den Japanern ihre jetzige Verfassung stückweise abhanden kommen, wird sich dies als staatliche Ideologie in einem enormen Gewaltpotenzial manifestieren. Momentan kann die japanische Rechte keine Aktivisten wie die deutschen Neonazis mobilisieren. Wenn sich aber die staatliche Gewalt verfestigt, werden sich die jungen Menschen, die momentan der Konsumkultur frönen, alle brav in den Marsch der „japanischen Neo-Nationalisten“ einreihen.

Mit „Der atemlose Stern“ ist in Deutschland der dritte Roman Ihrer Trilogie „Grüner Baum in Flammen“ erschienen. Nach der Veröffentlichung des Originals 1994 wollten Sie eigentlich nie mehr Romane schreiben.

In den fünf Jahren, die ich an der Trilogie schrieb, fühlte mich von dem Gedanken verfolgt, dass mein Leben fast nur dem Schreiben von Romanen gedient haben soll. Die letzten zehn Jahre wollte ich nach innen gewandt Worte schaffen und mich meinem Tod zuwenden. Tatsächlich habe ich mich nach dem Schreiben von „Grüner Baum“ vier Jahre lang nur der Lektüre von Spinoza gewidmet. Ein Jahr habe ich in Princeton gelehrt, aber auch dort bestand der Großteil meines Lebens in Spinoza-Lektüre. Dann jedoch erhielt ich den Nobelpreis, und mein Leben war alles andere als das eines Weltflüchtigen. Und nach vier Jahren begann ich doch wieder zu schreiben, den Roman „Salto“, und zwar in einem mir unbekannten Tempo.

Es war nicht das einzige Mal, dass sie Entschlüsse umgestoßen haben.

Es hat mehrmals große Krisen gegeben, und immer habe ich schwere Entscheidungen getroffen, um sie zu überwinden. Zunächst habe ich den Plan aufgegeben, in meiner Heimat tief in den Wäldern zu leben. Zwischen meiner Mutter und mir hat das eine tiefe Kluft gerissen. Dann habe ich nach dem Studium in Tokio darauf verzichtet, mich als Wissenschaftler der französischen Literatur zu widmen und stattdessen die Schriftstellerlaufbahn eingeschlagen. Und ich habe mich entschieden, meinen Sohn Hikari zum Zentrum meines Lebens zu machen.

Das wesentliche Thema von „Grüner Baum in Flammen“ ist die Frage nach der Religion. Hat dieses Interesse mehr mit der persönlichen Sinnsuche eines Ungläubigen zu tun, oder mehr mit der Gründung neuer Gemeinschaften wie der Aum-Sekte, die im März 1995 den Sarin-Anschlag verübte?

Heute erscheint es mir, als hätte ich mich darauf vorbereiten wollen, als „Ungläubiger“ zu sterben. Doch während ich die Romane schrieb, las ich mit einer lodernden religiösen Leidenschaft die Gedichte von W.B. Yeats und R. S. Thomas sowie Gershom Scholems „Sabbatai Zwi – Der Mystische Messias“. Sekten waren für mich schon lange von aktuellem Interesse. Neben der japanischen Rote-Armee-Fraktion, der Rengô-Sekigun mit ihren internen Gewaltexzessen, ist der Sarin-Anschlag der Aum-Sekte das wichtigste Ereignis in Japan nach dem Krieg. Doch sowohl die noch lebenden Rotarmisten als auch die Attentäter haben nichts getan, um ihre Ideen, für die sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, offen zu legen. Wie ein Blindgänger, nicht tief unter der Erde, wartet dieses Problem darauf, von den Japanern freigelegt zu werden. Vielleicht handelt es sich dabei auch um einen Teil dessen, was weltweit an die Oberfläche steigt. Religion steht dabei fast synonym für Gewalt.

Deutsche Leser sind oft überrascht, dass die in „Grüner Baum“ dargestellte Religionsgemeinschaft sich westlicher Religionen bedient und nicht auf Buddhismus oder Shintoismus zurückgreift. Fragen Sie nach Gott in einem westlichen Kontext?

Ich bin Japaner und schreibe auf Japanisch. Dabei sind meine buddhistischen Grundlagen – meines Erachtens stellt der Shintoismus kein religiöses System dar –, sicher nicht ohne Bedeutung. Doch um meine religiösen Fundamente zu verfremden, habe ich in meinen Büchern vordergründig christliche beziehungsweise jüdische Texte verwandt. Ich habe also als ein japanischer Ungläubiger die Texte westlicher Religionen zitiert. Es ist wirklich interessant, auf welche Weise die Japaner seit der Moderne Yeats, Dante und Augustinus ins Japanische gebracht und zitiert haben. Religion ist Sprache und zugleich deren Negation. Die Übersetzung dieser beiden Aspekte bildete für die Menschheit wahrscheinlich die wichtigste kulturelle Aufgabe.

Im Winter 1999/2000 haben Sie drei Monate in Berlin verbracht. Sie haben in dieser Zeit Ihren Roman „Der Wechselbalg“ geschrieben, in dem Sie dem Verhältnis zu Ihrem Schwager nachgehen, dem Filmemacher Jûzo Itami, der sich 1997 zu Tode stürzte. Wie hat sich Berlin beim Schreiben bemerkbar gemacht?

Meine größte Freude in Berlin war es, in den Straßen, Gebäuden, Menschen und Bäumen, in allem und jedem herrliche Zitate herauszulesen. Während ich mich an Jûzô Itami erinnerte, musste ich auch immer an meinen Freund, den Komponisten Tôru Takemitsu, denken; wenn ich die Straßen entlangging, erschien Takemitsu Hand in Hand mit Walter Benjamin, und hinter ihnen stand der Thomas Mann des „Doktor Faustus“. Natürlich spielte es auch eine Rolle, dass ich mich im Land der Gebrüder Grimm befand.

Ihre Romane, besonders die späteren, gelten als unzugänglich, vor allem aufgrund Ihres absichtlich verschachtelten Stils. Fühlen Sie sich darin Thomas Mann nahe?

Ich habe mir in den letzten 45 Jahren einen Stil geschaffen, um Texte verfassen zu können, in denen ich meinem Verständnis der großartigen westlichen Schriftsteller und Dichter nahe komme und die für dessen Ausdruck „notwendig“ sind. Doch ich weiß selbst, dass dies nicht die „hinreichende Bedingung“ für einen guten Stil erfüllt. So wie T.S. Eliot für mich der repräsentative Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts ist, ist Thomas Mann, den ich auf Japanisch, Englisch und Französisch lese, der große Schriftsteller, der im zwanzigsten Jahrhundert an das Menschentum der Zukunft appelliert hat. Aus Thomas Manns Tagebüchern geht hervor, dass seine verschachtelten langen Sätze die Leser – von den Freunden seiner Familie bis hin zu Adorno – beim Vorlesen auch emotional verzauberten. Ich will mich nicht mit diesem Genie des Satzbaus vergleichen, aber so wie Thomas Mann den Stil im Deutschen erweitert hat, habe ich als junger Schriftsteller versucht, die japanische Sprache neu zu schmieden. Diesen Traum verfolge ich heute noch.

Zum Schluss etwas ganz anderes. Das Seebeben vor einem Monat hat die Welt erschüttert. Was bedeutet es für Japan?

Wie wohl die meisten Japaner denke ich an das von Spezialisten befürchtete große Erdbeben, dessen Epizentrum direkt unter Tokio liegen könnte. Ich finde es gut, dass die Japaner wirtschaftlich dazu beitragen, dass die betroffenen Völker Asiens wieder auf die Beine kommen, und die japanische Regierung die Verteidigungsstreitkäfte dorthin entsendet. Ich hoffe auch, dass dies das Modell für Japans internationalen Beitrag abgibt, und dass sich die militärische Zielsetzung der Verteidigungsstreitkräfte zum Katastropheneinsatz hin verlagert. Die japanischen Politiker und die japanischen Finanzmächte haben bereits ernsthaft damit begonnen, unsere Verfassung dahingehend zu ändern, dass die Verteidigungsstreitkräfte in den Krieg ziehen beziehungsweise sich an dem amerikanischen Krieg beteiligen können. Auch dagegen treten wir mit unserer Vereinigung zum Erhalt des Artikel neun unserer Verfassung an.

Das Gespräch führte Nora Bierich.

Kenzaburô Oe , am 31. Januar 1935 auf der japanischen Südinsel Shikoku geboren, stammt aus einer alten Grundbesitzer-Familie. Er ist das dritte von sieben Kindern und erlebte als Zehnjähriger die japanische Kapitulation als prägende Erfahrung. Sein Literaturstudium in Tokio schloss er mit einer Arbeit über Sartre ab, dem er später auch begegnete. Seit den frühen Sechzigerjahren ist er in der japanischen Friedensbewegung und ihrem Engagement gegen Atombomben aktiv. Schon 1958 rückte Kenzaburo Oe mit dem Akutagawa-Preis für die Erzählung „Der Fang“ in die erste Reihe der japanischen Nachkriegserzähler vor. Seitdem hat er für sein umfangreiches Werk, das auf Deutsch im S. Fischer Verlag erscheint, zahlreiche Auszeichnungen erhalten – und 1994 den Nobelpreis für Literatur . Vom besonderen Verhältnis zu seinem behinderten Sohn Hikari erzählt das Buch „Eine persönliche Erfahrung“.

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