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Kultur: Die Wiederentdeckung der Eisscholle

Immer und immer wieder erstaunt, was aus den Museumssammlungen Rußlands ans Licht der westeuropäischen Öffentlichkeit tritt.Diesmal ist es die Hamburger Kunsthalle, die mit der Unterstützung der Landesbank den Partner der Hansestadt, St.

Immer und immer wieder erstaunt, was aus den Museumssammlungen Rußlands ans Licht der westeuropäischen Öffentlichkeit tritt.Diesmal ist es die Hamburger Kunsthalle, die mit der Unterstützung der Landesbank den Partner der Hansestadt, St.Petersburg, zu einer großzügigen Ausleihe bewegen konnte, der sich nicht weniger als 15 Provinzmuseen des Riesenreiches angeschlossen haben.Rund 100 Werke, von denen einige zu den Inkunabeln der russischen Avantgardekunst zählen, die große Mehrzahl aber hierzulande gänzlich unbekannt ist, konnten für die Ausstellung "Chagall, Kandinsky, Malewitsch und die russische Avantgarde" gewonnen werden, mit der das Hamburger Institut ein im eigenen Bestand nicht vorhandenes Kapitel der Kunstgeschichte glanzvoll aufblättern kann.

Ausstellungen zur russisch-frühsowjetischen Avantgarde hat es in den zurückliegenden zwanzig Jahren im Westen in bemerkenswerter Anzahl gegeben, und lange Zeit spielte dabei die politische Sensation die Hauptrolle.Inzwischen nähert sich der Austausch den üblichen Gepflogenheiten.Doch immer noch überrascht, wie gesagt, der Reichtum der nicht geläufigen Kunstwerke.Die kunsthistorisch abwägende Einordnung tritt demgegenüber in den Hintergrund.Ausstellungen mit westlichen wie östlichen Leihgaben zugleich bilden noch die Ausnahme.Auch die Hamburger Ausstellung bietet sich eher als kulinarisches Ereignis dar.Neben den im Titel erwähnten Koryphäen der russischen Moderne ist eine Vielzahl weiterer Namen aufgeboten, denen jeweils ganze Werkgruppen gewidmet sind.Doch tritt daneben das Bemühen hervor, mit dem gezeigten Bestand einen ungewohnten Akzent zu setzen.

Während das westliche Auge lange Zeit auf die eigentümliche und am Ende katastrophale Symbiose von Kunst und Politik im werdenden Sowjetreich blickte, rückt die Hamburger Kunsthalle die Phase der Avantgarde entschieden weiter an den Jahrhundertbeginn.Die bolschewistische Revolution kommt in dem gewählten Zeitabschnitt nicht mehr vor.Statt dessen beschränkt sich die Auswahl auf die Jahre 1908 bis 1915, als eine Reihe kurzlebiger Künstlergruppen und spektakulärer Ausstellungen auf den Plan trat.Die Ausstellung will aber durchaus kein Spiegelbild aller zeitgenössischen Strömungen liefern.Die Hinwendung zur westlichen Moderne wird bewußt ausgeklammert, um den Blick zu richten auf die Wiederentdeckung und Neubewertung (volks-)künstlerischer russischer Traditionen, die den gemeinsamen Nenner der Avantgarde im Zarenreich bilden.Der üppig ausgestattete und verdienstvollerweise um eine Reihe von Quellentexten bereicherte Katalog hält dazu eine Fülle bildkräftiger Zitate bereit.So schrieb Natalia Gontscharowa 1913: "Mein Weg richtet sich auf den Ursprung aller Kunst - auf den Osten.Die Kunst meines Landes ist ungleich tiefer und vor allem bedeutender als alles, was ich im Westen kenne", und Kasimir Malewitsch wollte 1916 "den befreiten Bären zwischen den Eisschollen des kalten Nordens baden" lassen, "statt im abgekochten Wasser des Aquariums im Akademiegarten zu schmachten".

Die Maler standen dabei mitten in der seit dem ausgehenden 19.jahrhundert vehement auflodernden Auseinandersetzung um den Eigenwert der russischen Tradition, der die dem Westen aufgeschlossene Bildungsschicht verächtlich gegenüberstand.Die reichen Bourgeois in Moskau und Petersburg - wie Morosow und Schtschukin - sammelten Cézanne, van Gogh und bereits die unmittelbaren Zeitgenossen Picasso und Matisse, während der Eisenbahnmagnat Sawwa Mamontow die Wiedererweckung traditioneller Künste als Privatangelegenheit finanzierte.Mit ihrem bewußten Primitivismus eckten Künstler wie die Gontscharowa, Michail Larionow oder Ilja Maschkow gewaltig an - warum, läßt sich in Hamburg an ihren farbkräftigen, bei aller Rohheit der Form doch ungemein poetischen Bildern nachvollziehen.Die Künstlergruppe "Karo-Bube", die aus der gleichnamigen Ausstellung von 1910 hervorging, sammelte bis weit in die Sowjetzeit hinein eher motivisch am alten Rußland interessierte Künstler wie Aristarch Lentulow, dessen Ansichten von Moskauer Klöstern die Motivik des russischen Akademie-Realismus des 19.Jahrhunderts mit formalen Einsprengseln des französischen "Cézannismus" verbinden.

Kandinsky und Malewitsch sind in Hamburg mit strahlkräftigen Werkgruppen vertreten, die ihre rasante Entwicklung zur Abstraktion beim ersteren, zum Suprematismus beim zweiten überzeugend nachzeichnen.Aufregender sind die kleinen Seitenkabinette der Ausstellung, in denen mit Gontscharowas "Fabrik" von 1912 und Olga Rozanowas "Stadt" wahre Entdeckungen neben solchen Inkunabeln wie Wladimir Tatlins "Matrose" von 1911 zu sehen sind.

Dazwischen steht Marc Chagall, in Hamburg gleichfalls mit einem ganzen Saal repräsentiert: Er blieb dem Pariser Einfluß am stärksten zugeneigt, auch wenn er nach seiner Rückkehr heimische Motive entdeckte, die Türme der Witebsker Gotteshäuser, die Holzhäuser, die fliegenden Geiger, Ziegen und Geliebten, jene ganz und gar ins Folkloristische hinübergleitende Welt des Shtetl, die damals bereits im Vergehen war.

Es ist eine künstlerische Revolution, die die Hamburger Ausstellung vorführt - sie enthält keinen noch so leisen Hinweis auf die Ereignisse, die bald über Rußland und damit auch über die Künstler hineinbrachen.Das ist, so wie die Ausstellung ihren Gegenstand eingrenzt, vollkommen berechtigt, und doch bleibt bei allem Vorwissen um die russische Avantgarde der Beigeschmack des gewollt Unpolitischen, als ob die ästhetische Bewegung um Sergei Dhiagilews Zeitschrift "Welt der Kunst" einen späten Sieg davongetragen hätte.

Hamburg, Kunsthalle, Glockengießerwall, bis 10.Januar 1999.Katalog im Verlag Gerd Hatje 39 DM, im Buchhandel 98 DM.

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