zum Hauptinhalt

Kultur: Die Wiederentdeckung der Zärtlichkeit

Zunächst sind da nur Gesichter.Alte Männer mit hellen Augen.

Zunächst sind da nur Gesichter.Alte Männer mit hellen Augen.Junge Männer, die vor Nervösität auf dem Stuhl zappeln.Dienstmädchen, die den Freund im Gefängnis wissen.Und Frauen, die ihren Kindern schreiben.Sie alle sind Analphabeten, müssen ihre Briefe diktieren: "Ich schreibe diesen Brief an einen Mann, der mich betrogen hat.Er hat mir alles genommen, und schließlich sogar den Schlüssel zu meinem Haus gestohlen." - "Ich spüre noch immer deine Wärme auf meiner Haut." - "Auch wenn du zwanzig Jahre wegbleibst: Ich werde warten." Man könnte dem stundenlang zuhören, diesen Querschnitt durch die Bevölkerung im Zentralbahnhof von Rio de Janeiro.Doch dann setzt mit Paukenschlag und Geigenmusik die Handlung ein: "Jesus, Du bist das Schlimmste, was mir in meinem Leben passiert ist.Doch dein Sohn will dich kennenlernen", diktiert eine dickliche Frau in die Feder.Und ihr Sohn, ein zwölfjähriger Pausback mit blitzenden Augen und weichem Mund sieht zustimmend zu ihr auf.Der Film ist an seinem Zentrum angelangt.

Minuten später ist die Mutter tot.Zurück bleiben ihr Sohn Josué und die ehemalige Lehrerin Dora, die sich mit Briefeschreiben ihr Geld verdient.Zwischen ihnen entwickelt sich, stockend und widerwillig, die Geschichte einer seltsamen, unwahrscheinlichen Liebe.Einer Liebe, die die längste Zeit auf Abneigung beruht: Dora, verbittert und egoistisch, versoffen und hart, sieht in dem kleinen Jungen, für den sie nach dem Tod seiner Mutter die Verantwortung übernimmt, nur den Stein am Hals, den lästigen Störenfried.Und Josué, mit allem Stolz des brasilianischen Mannes in seinem kleinen Kopf, erkennt in Dora nur das Häßliche, Abstoßende: Diese Frau mit dem verwarzten Gesicht einer Kröte, deren Schweiß man von der Leinwand zu riechen meint, ist für ihn nicht Frau, sondern Neutrum.Und es ist das Höchstmaß der Gefühle, wenn er ihr, im Moment der tiefsten Verzweiflung, herablassend und doch mit der ganzen Grandeur des kleinen Machos ein Kompliment macht: "Mit Lippenstift bist du richtig hübsch." Wenn er ihr auf dem Jahrmarkt mit großer Geste und von ihrem Geld ein neues Kleid kauft.Und ihr, erstmals neben ihr im Bett, mit aller prahlerischen Unschuld des Kindes von seinen wunderbaren Liebeserlebnissen erzählt.

Die herbe Beziehung der beiden Eigenbrötler trägt den Film, sorgt dafür, daß er trotz aller Tränen und Geigenmusik stets das rechte Maß hält, sich niemals in Gefühlskitsch verliert, trotz des hochemotionalen Themas auf eine angenehm kühle Art herzergreifend ist.Die 67jährige Fernanda Montenegro, Brasiliens große alte Dame des Schauspiels und Films, ist Dora, die ehemalige Lehrerin, die am Bahnhof von Rio Briefe für Analphabeten schreibt und sie am Abend mit einer Freundin genüßlich wieder zerreißt.Dora, die lügt, betrügt, die in jahrelanger Einsamkeit hart geworden ist, nur auf ihr Durchkommen achtet in dieser armen, häßlichen Welt.Die trinkt und raucht, und deren Gefühlsamplitude etwa so groß ist wie die eines Laubfrosches.An ihrer Seite eine Neuentdeckung des brasilianischen Regisseurs Walter Salles: Der 12jährige Vinicius de Oliveira spielt die Rolle des Josué mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit und schönem Ernst.Er zeigt ohne großen Aufwand, wie Josué sich in seiner Trauer um den Tod der Mutter flüchtet in stachelige Abwehr und spröden Stolz.Und gewinnt mit seiner Wut, seiner Energie und plötzlich aufbrechender Liebenswürdigkeit sofort die Sympathie der Zuschauer.

Am Ende trennen sich die beiden, trotz happy end.Der kleine Junge, in Vogelperspektive auf einer weiten Straße, die alte Frau im Bus zurück nach Rio, und einige stille Tränen auf beiden Seiten - das ist kein Märchenschluß.Das wahre Märchen liegt woanders: Darin, daß auf dem Flughafen von Rio ein kleiner Schuhputzer den Regisseur um ein Sandwich anbettelt, und die Hauptrolle in dessen Film "Central do Brasil" ("Central Station") bekommt.Darin, daß er dafür keine Gage erhält, sondern eine ordentliche Schulausbildung.Und darin, daß dieser kleine Film rund um die Welt reist, auf der Berlinale mit dem "Goldenen Bären" ausgezeichnet wird, schon im Vorraus zum "Film des Monats" gewählt wird und nun passend zu Weihnachten in die Kinos kommt.Er wird uns glücklich machen.

Interview mit Walter Salles

TAGESSPIEGEL: Herr Salles, mit "Central Station" haben Sie dies Jahr den Goldenen Berlinale-Bären gewonnen.Was bedeutet der Preis für Sie und für den brasilianischen Film?

SALLES: Es ist der erste Goldene Bär nicht nur für Brasilien, sondern für ganz Lateinamerika.Das ist sehr wichtig.Das brasilianische Kino hat den Neubeginn bewältigt und ist jetzt kontinuierlich bei internationalen Festivals vertreten.Wir haben auch wieder eine stabile Produktion von 30 bis 40 Filmen pro Jahr.Anfang der Neunziger Jahre schien das unmöglich, damals war unter der Collor-Regierung die gesamte Film- und Kulturproduktion zum Erliegen gekommen.

TAGESSPIEGEL: In "Central Station" sucht der Junge nach seinem unbekannten Vater.Eine Metapher für Brasilien?

SALLES: Im Portugiesischen sind sich die Wörter Vater und Vaterland sehr nahe.Wir leiden unter dem chronischen Fehlen des Vaters.Jedes kolonisierte Land wurde irgendwann vom Kolonialherren verlassen und leidet unter diesem Gefühl des Verlustes.Deshalb ist in "Central Station" die Vaterfigur so verschwommen, beinahe inexistent.Der Wunsch nach dem Vater, der jedoch niemals auftaucht, ist das Thema des Films.Doch der Junge findet zu einem Sinn im Leben."Central Station" erzählt von der Wiederentdeckung der Zärtlichkeit.Der Junge entdeckt seine Brüder am Ende der Welt, in einem Kontext, der genauso industriell gefertigt ist wie der Bahnhof "Central do Brasil".Obwohl diese endlose Favela unmenschlich ist, entdeckt er Zärtlichkeit.Und das Ende der Einsamkeit.

TAGESSPIEGEL: Warum muß Dora, die ihn dorthin brachte, nach Rio de Janeiro zurück?

SALLES: Diese Frau lernt durch einen Jungen, der seine Wurzeln sucht, wieder etwas zu empfinden.Sie hat in den vergangenen 20 Jahren nicht gelebt.Sie ist auf dem Bahnhof vor sich hinvegetiert.Nun muß sie die Briefe, die sie für die Analphabeten schreibt, wieder abschicken, sie muß die Welt kennenlernen, die sie nicht gekannt hat.Sie braucht eine zweite Chance.Nicht die, irgendwo am Ende der Welt Anhängsel einer fremden Familie zu sein.

TAGESSPIEGEL: Sie haben lange als Dokumentarfilmer gearbeitet.Was erbrachte diese Erfahrung für "Central Station"?

SALLES: Unser Drehbuch war für uns keine Bibel, obwohl es schon vor zwei Jahren ein Preis bekommen hat.Es wäre doch Selbstmord, ein Roadmovie zu drehen, ohne das Reale miteinzubeziehen.Ein Beispiel: Kaum hatten wir Tisch und Stuhl von Dora im Hauptbahnhof von Rio aufgebaut, setzten die Leute sich auf den Besucherstuhl, um wahre Briefe zu diktieren.Die Leute suchten verzweifelt nach einer Möglichkeit zur Kommunikation.Ihre echten Briefe wogen emotional viel schwerer als die, die schon vorgeschrieben waren.So haben wir den Film auf eine weit organischere Art gedreht, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.Auch die Prozession haben wir mit echten Pilgern nur noch einmal nachinszeniert.Man muß nur mit der Kamera hinterherlaufen, um den Augenblick festzuhalten.

TAGESSPIEGEL: Als "Central Station" den Goldenen Bären bekam, kritisierte die Presse, der Film sei schon auf dem Sundance-Filmfestival gezeigt worden.Damit habe die Berlinale gegen ihre eigenen Regularien verstoßen.

SALLES: Das Sundance Filmfestival ist ein direkter Koproduzent des Films.Zur Jahrhundertfeier des Films hat Sundance unserem Film einen Produktionspreis verliehen, vorausgegangen war die Prämierung des Drehbuchs mit dem Sundance Institute Award.Also investierte Sundance 300 000 Dollar und koproduzierte damit den Film, ebenso Fonds Sud aus Frankreich, wo er auch seine Premiere hatte."Central Station" ist hauptsächlich mit brasilianischem Geld gedreht worden, aber auch unabhängig von Sundance.Deshalb könnte der Film theoretisch vor der Berlinale in allen beteiligten Ländern aufgeführt worden sein.Das lassen die Bestimmungen des Berliner Festivals zu.Auch wurde er nicht wie ein Wettbewerbsfilm in Sundance sechsmal gezeigt, sondern nur einmal an einem Vormittag.Deshalb lief er in Berlin ganz zu Recht im Wettbewerb.

Das Gespräch mit "Central Station"-Regisseur Walter Salles führte Ute Hermanns

Capitol, Cinema Paris, Filmkunst 66, International, Neues Off, Odeon (OmU)

CHRISTINA TILMANN

Zur Startseite