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Kultur: Die Wirtschaftswissenschaft entdeckt ein lange vernachlässigtes Feld

"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Wer würde diesen Ausspruch Lenins mit Blick auf das eigennützige Wirtschaftsleben bezweifeln?

"Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Wer würde diesen Ausspruch Lenins mit Blick auf das eigennützige Wirtschaftsleben bezweifeln? Doch neue betriebliche Organisationsformen wie Tele- und Projektarbeit, virtuelle Unternehmen und innovative Netzwerke zeigen: Nicht immer ist Kontrolle möglich. Und nicht immer ist Kontrolle sinnvoll. Kollegen oder Kooperationspartner ständig zu überwachen, ist ebenso teuer wie tückisch. Macht sich erst eine Atmosphäre des Misstrauens breit, können Engagement und Eigenmotivation schnell erlahmen - Dienst nach Vorschrift wäre die Konsequenz. Wie also lässt sich Vertrauen als verlässliches Koordinationsprinzip nutzen? Wie funktioniert der Vertrauensmechanismus? Kann man überhaupt eine Vertrauenskultur erzeugen?

Ökonomen haben solche Fragen lange ignoriert, obwohl sie nicht nur zwischenmenschlich, sondern auch wirtschaftlich bedeutsam sind. Tanja Ripperger, Wissenschaftlerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat diese Lücke geschlossen. Mit ihrem Buch "Ökonomik des Vertrauens" regt sie dazu an, sich mit dem so allgegenwärtigen Phänomen bewusster auseinanderzusetzen. Ihre Kernthese lautet auf den Punkt gebracht: Ein vernünftiger Akteur vertraut nicht blind. Nur wenn er Vor- und Nachteile einer Vertrauensbeziehung sorgfältig abwägt und sich gegen mögliche Schäden wappnet, kann er beruhigt auf Vertrauen setzen.

Der Text zeichnet sich durch eine schlüssige Argumentationskette aus. Nach einem Überblick über die Unsicherheit und Komplexität menschlicher Interaktion beleuchtet sie das Wesen einer Vertrauensbeziehung: Das Verhältnis zwischen dem, der Vertrauen schenkt, und dem, der das Vertrauen empfängt, sei oft durch Informationslücken charakterisiert - Irrtum und Überraschung können erhebliche Probleme verursachen. Beide Seiten sollten deshalb zuvor die persönlichen Konsequenzen ihres Verhaltens bedenken.

Zunächst legt Ripperger ihr Augenmerk auf den Vertrauensgeber: Jemandem zu trauen, sei nichts anderes als eine riskante Investition. Gefühle, Zeit oder Geld seien für immer verloren, falls das jeweilige Gegenüber das Vertrauen selbstsüchtig ausnützt. Um nicht ins offene Messer zu laufen, schlägt sie ein kritisches Entscheidungskalkül vor. Ein möglicher Kooperationspartner solle vertrauenswürdig und -fähig erscheinen. Der erwartete Nutzen aus der Beziehung müsse positiv sein. Und zugleich müsse die individuelle Risikobereitschaft das Risiko übersteigen, womöglich enttäuscht zu werden. Nur dann sei ein Vertrauensvorschuss gerechtfertigt.

Umgekehrt müsse der Vertrauensnehmer sich vor Augen führen, dass er sich persönlich bindet, sobald er das in ihn gesetzte Vertrauen akzeptiert. Will er die Beziehung zu einem späteren Zeitpunkt beenden, käme das einem moralischen Vertragsbruch gleich - mit mehr oder minder hohen Nachteilen versteht sich. Somit müsse der subjektiv empfundene Nutzen aus dem Verhältnis höher sein als die erwarteten Kosten. Das Entscheidungskalkül werde zum einen dadurch bestimmt, ob die Person eher altruistisch, egoistisch oder opportunistisch motiviert sei; zum zweiten hänge das Urteil von den verfügbaren Handlungsalternativen ab.

Wie in einer Organisation wechselseitiges Vertrauen wachsen kann, ist der nächste Schwerpunkt des Buches. Da die Kooperationsbereitschaft auf Dauer keineswegs selbstverständlich sei, empfiehlt die Wirtschaftswissenschaftlerin "die Installation eines Gewissens". Darunter versteht sie ein allseits akzeptiertes Anreizsystem, das Vertrauen fördert und dessen Missbrauch sanktioniert. "Es ist sinnvoll", schreibt Ripperger, "das Verhalten eines potentiellen Vertrauensnehmers sozial zu kontrollieren und den Schutz von Vertrauen im Rahmen einer konstitutionellen Regelung zu institutionalisieren." Schlachtet ein Individuum das entgegengebrachte Vertrauen aus, müsse es Konsequenzen in Kauf nehmen. Als Hebel könnten soziale Elemente wie der Verlust an Reputation oder ein zeitweiliger Abbruch der Kooperation dienen.

Vertrauen durch Zuckerbrot und Peitsche! Die ökonomische Analyse mag bei vielen auf wenig Gegenliebe stoßen. Entzieht sich dieses zwischenmenschliche Phänomen nicht genauso einem Kosten-Nutzen-Kalkül wie Liebe? Die Autorin nimmt möglichen Kritikern den Wind aus den Segeln, indem sie ihren Ansatz zum Abschluss selbstkritisch reflektiert. Zwar könne die Wirtschaftswissenschaft nicht alles erklären. Während aber die Moralphilosophie nur an einen Opportunisten appellieren könne, sich doch bitte vertrauenswürdig zu verhalten, wolle die Ökonomik die Anreize so gestalten, dass sich moralisches Handeln lohnt - und zwar aus dem Eigeninteresse der Menschen.

Auch wenn die wirtschaftswissenschaftliche Sprache mit Blick auf Vertrauen manchmal befremdlich wirkt, zieht das Buch den Leser in seinen Bann: Tanja Ripperger entwickelt ein umfassendes Vertrauensmodell, das vorhandene Beiträge aus der Psychologie, der Soziologie und der Moralphilosophie unter dem ökonomischen Paradigma zusammenführt und damit deren isolierte Erkärungskraft weit übertrifft. Die Autorin zeigt Wege auf, wie sich Vertrauen als überlegenes Organisationsprinzip etablieren lässt. Denn wenn es in einer Gemeinschaft gelingt, eine anreizgerechte Kooperationskultur zu schaffen, kehrt sich die alte Redensart um: "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!"Tanja Ripperger: Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips. 292 Seiten. Mohr Siebeck 1998. 98 Mark.

Olaf Tidelski

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