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Gemeinsam sind wir stark. Die Fanparty vom Dienstag am Brandenburger Tor.

© dpa

Die WM und der Teamgeist: Wir und wie wir die Welt meistern

Alle reden nach der WM vom Teamgeist. Aber ist das Spiel der Nationalmannschaft tatsächlich ein Abbild der Gesellschaft? Ein Rückblick auf die Woche der Sieger.

Von Caroline Fetscher

Am Ende war es kein Gott, sondern ein Götze, der das Tor schoss. Ein junger Mann aus Fleisch und Blut, der glückliche Mario Götze, professioneller Elitesportler, ehrgeizig, durchtrainiert, hoch bezahlt. Sein eins zu null verschaffte der deutschen Mannschaft den Titel „Weltmeister“. Vorher war viel die Rede gewesen vom „Fußballgott“, im Moment der Entscheidung erschien der Torschütze als „Erlöser“. Den „heiligen Pokal holen“ wollten sie sich, hatten auch Argentiniens Fußballer vor dem Finale erklärt. Am Druck der Erlösungserwartung, mit der Arme wie Reiche auf den Fußballgott schauten, war Brasiliens Mannschaft gescheitert.

Das Spiel ist vorbei, die Hostien des unberechenbaren Fußballgotts sind im Tabernakel verschwunden. Gesiegt und entschieden hat ohnehin nicht er, sondern der Teamgeist, das Team. Der Pokal verwandelt sich vom Heiligen Gral in eine mit ehrlicher Arbeit verdiente, gemeinsam erjagte Trophäe aus Gold. Es war Teamwork! Wir sind ein Team! Zusammen waren wir stark! Das, so der Tenor, kann sich die Welt von Deutschland abgucken. Nicht die Starallüren Einzelner, sondern der Geist einer Mannschaft, die zusammenhält, entscheidet über Sieg oder Niederlage.

Wenn der Fußballstil einer Nationalmannschaft ein Abbild der deutschen Gesellschaft generiert hat, dann eben diesen Nationalspirit: exzellente Teamarbeit. Davon war viel die Rede in den letzten Tagen. Dass jeder Spieler auf seine Art ein Star ist – der Taktiker, der junge Ungestüme, der Zuarbeiter, der Stürmer und so fort –, sie aber nur gemeinsam gewinnen. Die amerikanische Autorin Anne Coulter wittert darin kollektivistische Ideologie; in der unamerikanischen Sportart, schreibt sie, könne sich Triumph oder Blamage des Individuums hinter der Gruppe verstecken.

Aus der Insolvenzmasse der Fußballgötter aller Länder steigt jetzt jedenfalls das Siegermodell des Gemeinschaftssinns auf. Der Nationaltrainer hatte die jungen Spieler nach „Wohngemeinschaften“ sortiert, genial, wie sie allesamt kreative Strategien entwickelt, Zusammenhalt trainiert haben: So, suggeriert dieses Narrativ, funktioniert die Firma Deutschland. Den Hintergrund des Narrativs bildet eine Reihe von Kollektivmodellen, von den Siebzigerjahren bis zur postmodernen Gegenwart. Dazu gehören alternative Lebensformen wie eben Wohngemeinschaften, didaktische Praktiken wie die Partnerarbeit in Schulklassen, Managementkonzepte wie Synergienutzung, Großraumbüros und Teamklausuren. Oder auch die den Freizeitstil prägende Moden wie Fitness und Wellness und aus der Psychologie kommende Methoden wie mentales Motivationstraining.

Eine Hochleistungsmannschaft für ein Hochtechnologieland

In einem Hochtechnologieland wie der Bundesrepublik erhält die Hochleistungsmannschaft, die die Nation repräsentieren und die Fußballschlacht für sie schlagen soll, einen technischen Betreuerstab, von dem man in Ghana oder Algerien nur träumen kann. Mit dem Team reisen Bundestrainer, Manager, Assistenztrainer, Torwart-Trainer, Fitness-Trainer, ein Orthopäde und ein Internist als Mannschaftsärzte, Sportpsychologen, Physiotherapeuten, Masseure, Reiselogistiker, Öffentlichkeitsarbeiter, ein Master-Coach, ein Privatkoch, ein Spezialist für Sportbekleidung, ein Chauffeur für den Bus. Sondermaschinen transportieren die jungen Gladiatoren von Flugplatz zu Flugplatz, Luxushotels erwarten sie am Einsatzort. Unterhaltungsprogramme und Freizeit mit eigens eingeflogenen Gattinnen oder Freundinnen, „Spielerfrauen“ genannt, unterbrechen das harte Training. Einige Wochen lang halten sich die Wettkämpfer in einem abgeschlossenen Kosmos auf, in dem alle Konzentration, alle Zerstreuung allein dem ehrenvollen, lukrativen Ziel dient zu siegen.

Mit der Gesellschaft als „Team“, mit einer beschworenen Gemeinschaft der 82 Millionen Einwohner der Bundesrepublik lässt sich die Ausnahmelage dieser Auslesegruppe kaum vergleichen. „Ich fühle mich komisch bei dem Gedanken, stolz auf die Leistung anderer zu sein, die ich nicht mal persönlich kenne“, sagte der 17-jährige Schüler Nicolas Reichert vor ein paar Tagen auf „Spiegel Online“. „Denn ich war es nicht, der so hart trainiert hat, der sich so ausgepowert hat. Das waren die Spieler.“ Sicher. Die Mannschaft repräsentiert keineswegs als pars pro toto, was alle im Land leisten. Sie repräsentiert vielmehr, was sich das Land für diesen Zweck leisten will und kann: den so zielorientierten wie virtuosen Umgang mit den finanziellen, technischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Ressourcen des Landes.

Auf dem Platz geht es auch um Tempo, Profit und Performance

„Nachwuchsleistungszentren“ des Deutschen Fußballverbandes sorgen seit den internationalen Niederlagen der vergangenen zwei Dutzend Jahre für die Förderung neuer Talente. Konzerne als Sponsoren schießen als Gegenleistung für Werbung Drittmittel zu. Während eine männliche Sportelite zu Kämpfern auf dem Platz ausgebildet wird, schnurrt eine gigantische, millionenschwere Maschinerie für die postmoderne Version von Brot und Spielen im römischen Imperium.

Nicht „die Gesellschaft“ ist in Wahrheit das Kollektiv, die Rezipienten sind es. „Fußball“ als Zuschauergemeinschaft stiftendes Phänomen entsteht aus der kollektiven Projektion der Rezipienten auf das Team, auf „unsere Jungs“. Soziologen sehen darin nicht nur den viel zitierten, zivilisierenden Ersatz für kriegerische Auseinandersetzung, sie betrachten auch den entlastenden Ertrag der gemeinschaftlichen Identifikation. Wichtig sind dafür Elemente wie die Suspension des Alltags, erlaubte Regression, das Ausleben und Kanalisieren von Emotion.

Außerdem ist in einer verwirrend unübersichtlichen Welt wenigstens hier das Geschehen plötzlich wieder sauber sortiert. Der grüne Platz und die Tore sind immer gleich groß, ein akzeptiertes Regelwerk hat unverhandelbare Gültigkeit, die Zugehörigkeit der Teilnehmer zu einer „Nation“ genannten Gruppe ist an der Kleidung ablesbar. Innerhalb des Settings liegen Verlauf und Ausgang des Spiels im Ungewissen, doch die Ungewissheit lässt sich in diesem Rahmen erfassen und ertragen. Und jedes Spiel wird zu einer mehr oder weniger gelingenden sozialen Skulptur, zu einem auch ästhetischen Event. Wenn der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen im Fußball eine „semi-religiöse Strategie zur Bewältigung von Kontingenz“ sieht, trifft er den Kern dieses Tatbestands.

Heftig diskutiert: der "Gaucho"-Tanz von Klose, Götze und Co.

Kollektive Entlastungsfunktion hat auch das entgrenzende Spielen nach dem zeitlich, räumlich und regelhaft begrenzten Spiel. Herrschen auf dem Platz Normen, Disziplin und Durchhalten, entlädt sich die Anspannung nach dem Spiel in Orgien erlaubter Anarchie und Enthemmung. Beim Hupen, Jubeln, Grölen, Trinken, Umherrasen feiert das Publikum die transitorische Auflösung von Verkehrs- und Benimmregeln. Und mitunter tun das auch die Spieler selber in aller Öffentlichkeit.

Viel diskutiert letzte Woche: Wie „unsere Jungs“ in einer Mini-Choreografie gegen die „Gauchos“ bei der Fanparty am Brandenburger Tor Argentiniens Team verunglimpften. Zu großzügigen, diskret tröstenden Gesten gegenüber den Verlierern wie im Turnier selber waren sie nicht mehr bereit. Nun waren sie Sieger, und zum Lohn des Siegs gehört eine Portion Überschreitung. Als Journalisten die Darbietung kritisierten, relativierten die Fans: Das machen doch alle Nationen! Hört mal die Argentinier, die singen: „Brasilien, wie fühlt sich das an, wenn dein ärgster Feind in deiner Hütte feiert!“

Nationen: Die Illusion der Übersichtlichkeit verschafft der globalisierte Ballsport auch, indem er auf einem Planeten voller Immigranten und Emigranten noch einmal die Epoche nationaler Phantasmen und dominanter Männlichkeit heraufbeschwört. Alle vier Jahre sorgt das Umgruppieren von Pass-Inhabern für die Verwandlung von Klub-Spielern in Nationalspieler. Nebenamtliche Staatsbürger statt hauptamtlicher Sportler sind dann am Ball. Paradoxerweise kollidiert auf diese Weise der völkerverständigende, Grenzen überschreitende Anspruch der Weltmeisterschaft dieses Mannschaftssports mit dessen Aufgabe, nationalistisches Kräftemessen darzustellen. Noch paradoxer ist der – glückliche! – Umstand, dass inzwischen viele Nationalteams stolz darauf sind, wenn sich Spuren der Migration in ihrer nationalen Equipe wiederfinden, in Deutschland etwa durch Namen wie Özil, Boateng oder Khedira.

Zweifellos reicht die Botschaft der aktuellen Spielpraxis über all das noch hinaus. Repräsentiert werden durch Stil und Dynamik die Anforderungen, die eine beschleunigte Weltwirtschaft Individuen wie Gruppen abverlangt. Vor einem halben Jahrhundert wurde überwiegend ehrenamtlich und im Vergleich zu heute in Zeitlupe gespielt. Heute geht es auch „auf dem Platz“ um Geschwindigkeit, Management, Multitasking, Selbstoptimierung, Flexibilität, Teamfähigkeit, Profit und Performance. Es geht ums „Liefern“, um maximale Härte, das Ausloten physischer wie psychischer Limits und um Erfolg als Ware.

Der Turbofußball der Superlative scheint im Zeitraffer abzulaufen, so wie unser Existieren in der globalen Simultanepoche Zeit an sich rafft: die Lebenszeit von uns, den Zeitgenossen. Wir sind nicht alle Weltmeister. Wir müssen aber alle, so oder so, diese Welt meistern.

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