zum Hauptinhalt

Kultur: Die Wüste lebt

Dralles Nummernwerk: Daniel Barenboim und Martin Kusej inszenieren Bizets „Carmen“ an der Berliner Lindenoper

Man träumt ja manchmal. Berühmt zu sein, reich, schön. Unter einer südlichen Sonne zu leben. Auf Gipfeln zu stehen. Und Mut zu haben – zum Widerspruch, zur bedingungslosen Liebe. An diesem Abend aber träumt man davon, Daniel Barenboim zu sein. Einmal am rasselnden Zirkusrad drehen wie in der Ouvertüre, einmal die Holzbläser zu einem derart lasziven, unverschämt mürben Konzertieren verführen wie in der ersten Zwischenaktmusik, einmal mit Auftritt Escamillos selbst der Torero sein unten im Graben, ächzend den Todesstoß zu setzen, und einmal nur wie im vierten Entr’acte, Schlangen beschwören, Wasserfontänen hell aufjauchzen lassen, dazu zornig den Flamenco stampfen – als wäre Bizets „Carmen“ ein Stück aus 1001 Nacht, als läge schon Prosper Mérimées wildes, hartes, ungebärdiges Novellen-Sevilla mindestens in Marokko.

Es muss eine Lust sein, ein Rausch, diese Partitur zu dirigieren. Und Barenboim frönt dieser Lust auf offensive, bestrickend schamlose Weise. Jagt einzelnen Akzenten nach, als ginge es ihm sogleich ans Leben, echauffiert sich bald sitzend, bald stehend, dreht bühnenreife Pult-Pirouetten, verliert im vierten Akt, zu Josés letztem, inbrünstigem „Carmen, je t‘aime encore“, in hohem Bogen seinen Stab, staucht und dehnt und knetet die Tempi – und will doch bloß eines: Gegenwart, Gegenwärtigkeit, jene Anti-Wagnersche, „afrikanische“ Heiterkeit also, von der Nietzsche einst sprach. „Diese Musik scheint mir vollkommen“, schrieb dieser 1888, „sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht.“ Und schönstes Lob aus dem Mund des Nihilisten: „Ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet.“

So richtig zum Sprechen freilich bringt Barenboim seine Staatskapelle noch nicht (abgesehen davon, dass es im Chor bisweilen gewaltig hapert und klappert). Die an der Lindenoper frisch wiederaufgenommene „Walküre“, das Mahagonifarbene dieses Klangkörpers, sein traditionell Dunkles und Deutsches, es sitzt den Musikern viel zu tief in den Knochen, als dass sie sich leichterdings auf den Absätzen umdrehten, zu den nächstbesten Kastagnetten griffen, einen Manzanilla tränken und selbstvergessen eine Seguidilla tanzten. So haftet diesem Abend bei aller Befeuerung, aller Leidenschaft für „schöne Stellen“ doch eine seltsame Kompaktheit an, etwas genuin Nicht- Französisches, herzlich wenig Graziöses.

Dass Bizets Partitur nichts bedeuten will und nichts geheimnist, sondern sagt, was ist – diese Ästhetik münzt Barenboim für sich in eine musikalische Augenblicksverliebtheit um, die dramaturgisch nicht fruchtet und bisweilen gar im Subjektiven, Detailpusseligen zu erstarren droht. Barenboim – das wiederum ist so klug wie richtig – nimmt „Carmen“ als dralle Nummernoper beim Wort, und auch die Oesersche Dialogfassung, die gespielt wird (und die den Abend auf satte vier Stunden streckt), tut ein Übriges. Nichts scheint hier mit nichts verbunden, hart stößt sich das Erotische mit dem Mörderischen, die Todessucht mit der Lebenslust, das typisch Weibliche mit dem Männlich-Machistischen, dieso genannte Freiheit mit der Gesellschaft: Dramatik im Dia-Show-Format. Ein treffliches Symptom dafür: Mit welch außerordentlicher Hingabe Barenboim die Zwischenspiele musiziert. Frei schwebende, klingende Karfunkelsteine, die die Hoffnung nähren, alles, das ganze Stück könnte am Ende so sein. So klar, so liebevoll, so unerbittlich, so nah bei uns.

Dass dem nicht so ist, dafür sorgt in mehrfacher Hinsicht das Geschehen auf der Bühne. Jens Kilians Räume beispielsweise präsentieren sich in ihrer Karajanesken Klobigkeit als ausgesprochen schwer verdaulich. Erster Akt, der Platz vor der Zigarettenfabrik: Ein bürgerlicher Salon steht Kopf und versinkt gut bis zur Hälfte in einem Bühnengranulat, das Sand bedeuten soll, Wüstensand. Afrika also, gleißende Helligkeit, flirrende Hitze, viel Staub in der Luft und ein kleiner Untergang des Abendlandes. Das Ganze – eine unausrottbare Mode! – auf emsig rotierender Drehbühne. Zweiter Akt, die Taverne von Lillas Pastia: ein zechenartiges Ungetüm reckt sich gen Schnürboden. Dritter Akt, die Schmugglerschlucht: Wuchtige Pappmaché-Pfeiler markieren die Ruine einer Arena, von der man meinen sollte, sie wäre erst im vierten Akt dran. Mal sinkt der Chor hier mit brennenden Kerzen in der Hand auf die Knie, mal darf er, ein paar Umdrehungen später und von Don José kollektiv gemeuchelt, seine blutenden Herzwunden herzeigen. Beides ebenso pittoreske wie stumme, nichts sagende Tableaux. Und das Finale schließlich, die Szenen vor dem Stierkampfrund, sie spielen auf großer leerer Bühne, immerhin. Alle und alles in Weiß, der kolonialistische Blick, noch einmal Afrika und Staub und Hitze also. Und den Zeigefinger brav mit Nietzsche erhoben. Und hurtig alle magische Schwärze, in die seinerzeit ein Peter Brook Bizets opéra comique tauchte, ins Gegenteil verkehrt.

Was soll hier passieren, fragt man sich. Wer sind die Menschen da oben, was wollen sie von uns und warum gehen sie geschlechterweise derart aneinander zu Grunde? Martin Kusej, der Regisseur, ist für diese Misere mit verantwortlich – ebenso wie für Heidi Hackls erschreckend fantasielose Kostümwahl: Carmen, ach ja, als Domina im hautengen Lederlook, José, der Messerfuchtler, in ausgemergelter Safari-Uniform, Micaela unter weißblonder Mirella-Freni-Perücke wie ihr eigenes Großmütterchen (aber mit verzehrenden Glockentönen: Dorothea Röschmann), Escamillo als blasiert-pomadiger Latin Lover (schwer überfordert: Hanno Müller- Brachmann), Mercedes und Frasquita in dünnen Fähnchen (überzeugend: Julia Rempe und Susanne Kreusch) und der Rest der Bagage in den mehr oder weniger üblichen Lumpen.

Spätestens wenn die ersten Zigarettenarbeiterinnen in Dessous und Strapsen über die Bühne wackeln, was nicht lange dauert, oder wenn Carmen Ende des ersten Aktes wie Tosca persönlich von der Schräge des umgekippten Salons nach hinten ins Leere springt, stellen sich böse Fragen. Erstens: Wie hält es diese Szene mit Bizets musikalischem Realismus? Und wie, bitteschön, mit den folkloristischen Verkrustungen, unter denen die meistgespielte Oper aller Opern traditionell lebendig begraben wird?

Die Antworten fallen dürftig aus: Hilflos geriert sich die Regie, fremd bleibt ihr jeder strukturellere Zugriff. Die Strapse sind ein Eigenzitat (auch in Kusejs Salzburger „Don Giovanni“ nämlich sollte es, wie Adorno sagt, um den „Sexus selber“ gehen), und überhaupt liegt der Finger tief in der Verlegenheitswunde: Kusej behauptet hier ein Regietheater, dessen Wert über bloßes Etikettenkleben nicht hinausgeht. Wenn Don José schon zur Ouvertüre erschossen wird, wenn Micaela von der Mutter spricht und sich selber meint, oder wenn am Ende ein blutüberströmter Escamillo aus der Arena getragen wird – dann sind das Einfälle, die sich über der Ratlosigkeit dem Ganzen gegenüber zu gar nichts fügen. Dieses Ganze aber muss erst einmal da sein, um im Bizetschen Sinne formatiert werden zu können.

Und noch eine Frage: Welcher Dramaturg, Freund, Intendant trägt wohl dafür Sorge, dass ein so unerhört begabter Hund wie Martin Kusej als Opernregisseur über kurz oder lang nicht ausblutet? Je renommierter und toller die Häuser desto erbärmlicher, weil willenloser die künstlerischen Resultate? Kusejs Carmen jedenfalls – und Marina Domashenko lässt daran auch stimmlich keinen Zweifel, mit orgelnden Tiefen und einer stilistisch ausgesprochen unerotischen Behandlung der Partie – bedient das pure Klischee und selbst das noch ohne Saft. „Bist du der Teufel?“, fragt Rolando Villazon alias Don José sie im dritten Akt. „Oui“, nickt Domashenko, und man glaubt ihr kein Wort. Villazonund seinem darstellerischen Glühen, seiner großartigen sängerischen Emphase hingegen glaubt man alles. Ein Emphatiker, ein an sich selbst Verzweifelnder, der sich sängerisch die Brust aufreißt und seine dramatischen Grenzen dabei sehr genau kennt (bei den Spitzentönen etwa, die er stets mit elegantem kleinem Anlauf nimmt). Man selber träumt ja manchmal, wie gesagt. Von Tenören mit glühenden Kulleraugen zum Beispiel, die mutterseelenallein durch unsere Musiktheaterwüste irren. Und von „besseren“ Menschen, hüben wie drüben, ganz bald.

Wieder am 7., 11., 14., 19., 22. und 26. Dezember

Christine Lemke-Matwey

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false