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Kultur: Die Wunder von Brescia

Das Museo Santa Giulia ist eine Entdeckung – und Pompeji liegt auch in Oberitalien

Wir betreten einen fast kahlen, granitgrau kühlen Raum, in dem am Boden nur zwei riesige eherne Flügel liegen. Wie abgebrochene Engelsschwingen. Eine stille, sonderbar suggestive Szene: als sei sie ein Memento für den ältesten Menschheitstraum und alle Abstürze – von Ikarus an. Zugleich glaubt man an eine moderne, souverän mit dem Mythos spielende Installation. Doch sind die bronzenen Flügel beinahe zweitausend Jahre alt.

Die Szene spielt in einem durch viele Zeiten geisternden, grandiosen Museum. Und seit diesem Frühjahr bietet es eine neue Sensation. Hier geraten dann auch die abgebrochenen Flügel mit ins Spiel, aber bei ihrem ersten Anblick im Museo Santa Giulia im oberitalienischen Brescia enthüllt sie noch nicht ihr Geheimnis. Also kommt dem assoziierenden Betrachter zunächst eine ganz andere Geschichte in den Sinn.

Es war ein 11. September, und diese Stadt hatte ihre Sensation in den Lüften. Dort stieg der Franzose Louis Blériot empor, der kurz zuvor als erster Mensch den Ärmelkanal überflogen hatte, der Amerikaner Glenn Cutiss war der Schnellste, und Henri Rougier stellte mit 198 Metern einen Höhenweltrekord in der gerade erst sechs Jahre alten Kunst des Motorfliegens auf. Unter den Zuschauern an jenem 11. September 1909 waren der italienische König und viele hochadlige Damen, die sich nicht nur für die tollkühnen Männer in ihren klapprigen Kisten, sondern vor allem für zwei künstlerische Ladykiller interessierten: den flugbegeisterten Dichter Gabriele d’Annunzio sowie den gleichfalls anwesenden Komponisten Giacomo Puccini. Und noch einer, ein Unbekannter, war unter den Zuschauern und schrieb danach in einer deutschsprachigen Prager Zeitung einen Erlebnisbericht mit dem Titel „Die Aeroplane von Brescia“.

Der Autor hieß Franz Kafka, und ihm verdanken wir nicht nicht nur die erste Fliegergeschichte der deutschen Literatur – vielmehr auch Peter Demetz’ vor einigen Monaten im Zsolnay Verlag erschienenes wunderbares Buch „Die Flugschau von Brescia. Kafka, d’Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen“. Und noch immer landen die inzwischen düsengetriebenen Maschinen auf dem damaligen Flugfeld von Montichiari, einem Vorort der am Rande der Alpen und der Po-Ebene gelegenen Stadt Brescia.

Nur die Reisenden sind dort meist nicht mehr so illuster, selbst wenn einem vorm Hotel plötzlich Herr Berlusconi als Kommunalwahlkämpfer begegnet. Brescia indes ist kein Touristenspot. Man reist doch eher ins nahe Bergamo, nach Verona oder an den Gardasee. An den Kiosken von Brescia gibt es nicht einmal Ansichtskarten. Diese 200000-Einwohnerstadt mit vornehmen Villen in den umgebenden Hügeln, mit einem von römischen Tempeln, von romanischen bis barocken Kirchen, von Renaissancepalästen und einer bedeutenden Pinakothek geschmückten Zentrum – sie wirkt stolz, reich und scheint sich selbst genug. Hier gibt es in den angrenzenden Bergen den (nach dem Abbaustopp in Carrara) besten Marmor Italiens, die Stadt veranstaltete lange vor Monza und noch vor ihrer Flugschau die ersten Autorennen des Landes; man baut Waffen (die berühmt-berüchtigte Beretta-Pistole stammt von hier), und Brescia, wo in den Sechzigern der deutsche Nationalspieler Albert Brülls einer der ersten „Italien-Legionäre“ war, ist dank Fein- und Metallindustrie eine Art südliches Super-Solingen.

Wie aus Venus Victoria wurde

Aber kulturell und touristisch wirbt die Stadt für sich kaum über die eigene Provinz hinaus. Dass der örtliche Theaterintendant Cesare Lievi, beheimatet an der riviera bresciana des südwestlichen Gardasees, ein vom Wiener Burgtheater über die Mailänder Scala bis zur New Yorker Met gefragter Schauspiel- und Opernregisseur ist, erfüllt hier allenfalls mit achselzuckender Genugtuung. Und für das Museo Santa Giulia reichen ein paar Hinweistafeln am Innenstadtrand. Dabei ist das Museum selbst im kulturell überreichen Italien noch ein Juwel.

Santa Giulia, ursprünglich ein Nonnenkloster der Benediktiner, wurde schon Ende des 18. Jahrhunderts säkularisiert und diente rund 100 Jahre als Kaserne. Kirche und Militär – das war gleichsam ein Reflex auf die Vorgeschichte des Geländes. Denn die Via dei Musei mit dem für zeitgenössische Ausstellungen genutzten Palazzo Martinengo und dem heutigen Museo Santa Giulia verläuft über der antiken römischen Magistrale. Unweit von Santa Giulia liegt das prachtvolle, wegen Ausgrabungen und Restaurierungsarbeiten seit Jahren gesperrte Forum Romanum mit einem imposanten Kapitolinischen Tempel aus der Zeit Kaiser Vespasians und einem angrenzenden Amphitheater.

Eben dieser kultur- und lebensgeschichtliche Zusammenhang wird auch zum Thema von Santa Giulia. Anders als vermutet, birgt die einstige Klosteranlage kein Museum nur der christlichen Kunst. Zwar umfasst der weitläufige Komplex unter anderem zwei mittelalterliche Kirchen und eine Basilika, unter deren blaugoldener Himmelskuppel das von zweihundert Edelsteinen besetzte Weihekreuz des Langobardenkönigs Desiderius aus dem 8. Jahrhundert ausgestellt ist. Doch in fast allen Räumen, ob ehemalige Refektorien, Chorgänge, Wirtschaftsgebäude oder Kultstätten, wird wie selbstverständlich klar gemacht, dass der Besucher durch verschiedene Zeitschichten geht – ja, dass er sich auf vergangenen, versunkenen Epochen bewegt. Wir steigen dabei nicht nur in den Untergeschossen wie in Zeitschächte hinab zu zahllosen kostbaren Zeugnissen der Prähistorie, der Bronze- und Eisenzeit, in Nekropolen und Wunderkammern mit Waffen, Schmuck, Alltagsgegenständen. Der archäologische, kryptische Urgrund aller Geschichte wird vielmehr auch sinnlich begehbar: als doppelter Boden.

Denn immer wieder tut sich hier die Erde auf, sind tiefere Räume durch Aussparungen freigelegt oder werden dank gläserner Böden sichtbar. So liegt das römische Straßenpflaster vor uns, unter uns, während wir durch die romanische Kirche von San Salvatore mit ihrem herrlich ausgemalten Nonnenchor und den (aus römischer Vergangenheit anverwandelten) Säulen mit ihren aus antiken Tempeln herausgeschlagenen Kapitellen gehen. Das alles wird, bis hin zu einigen in Italien einzigartigen Zeugnissen auch aus Karolingerzeiten, museologisch brillant präsentiert: luxuriös weitläufig, material- und kontrastreich, mit italienischen und englischen Informationen und in durchweg klimatisierten Räumen.

Neuer Höhepunkt, seit diesem Frühjahr: eine Halle, angebaut an einen Renaissance-Kreuzgang als konservierender Mantel um die dortige Ausgrabung dreier römischer Villen aus dem 1. Jahrhundert. Auf luftigen Stegen wandelt man nun über ein Stück antiker Stadt und sieht eine archäologische Darbietung von halbhohen Grundrissen, von Freskenwänden und einigen prachtvollen Mosaikböden (schönstes Motiv: Dionysos tränkt aus seinem Füllhorn einen Panther) – in einer Qualität und Quantität, wie sie sich erst wieder im Nationalmuseum von Neapel und in Pompeji findet. Und die abgebrochenen Flügel: Sie gehören der Venus, einer römischen Aphrodite-Kopie. Die überlebensgroße bronzene Liebesgöttin hält einen unsichtbaren, verlorenen Schild, und weil sich darin vielleicht der Kriegsgott Mars gespiegelt hatte, wurden ihr nach dem 1. Jahrhundert nachträglich Sieges-Flügel verliehen, als Victoria. Nun aber steht die unverfälschte Göttin im geheimnisvollen Halbdunkel eines Kubus inmitten des Klosterhofs – und die verlorenen Flügel sind das Zeugnis, wie die Liebe einstmals zum Krieg werden sollte.

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