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Kultur: „Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei“

Vor 50 Jahren wurde der Nanga Parbat zum ersten Mal bezwungen: Warum dieser Achttausender bis heute zum moralischen Streitfall wird – ein Gespräch mit dem Berghistoriker Ralf-Peter Märtin

Vor 50 Jahren, am 3. Juli 1953, stand Hermann Buhl als erster Mensch auf dem Nanga Parbat. 31 Bergsteiger waren zuvor an diesem „deutschen Schicksalsberg“ ums Leben gekommen. Warum hatte einer Erfolg, wo alle anderen gescheitert waren?

Hermann Buhl war den Bergsteigern seiner Zeit voraus. Von ihm hieß es, er ginge sogar über seine eigene Leiche zur Spitze. Das ist auch das Erschreckende an ihm. Denn wo bei anderen die Vernunft einsetzte und sie umkehrten, ging er einfach weiter. Am Nanga Parbat hätte ein kleiner Fehler genügt, und es wäre schief gegangen. Wenn das Wetter nur ein bisschen schlechter gewesen wäre, hätte Buhl keine Chance gehabt.

Er war ein Spieler?

Buhl betrachtete die HimalayaRiesen nicht anders als die Alpen. Der Gang auf diesen furchteinflößenden Berg war nur möglich, weil Buhl ihn seines Mythos entkleidete. Er sah nicht das Heldengrab vergangener Epochen, sondern einen Steinhaufen. Oben hat es ihn auch gegraust, als er sich fragte, wie er da wieder runter kommen sollte. Aber ab einem bestimmten Punkt gibt es keine Alternativen mehr, da geht es nur noch ums Überleben. Und das hat Buhl wunderbar gekonnt.

Wie kein anderer Berg ist der Nanga Parbat zur nationalen Aufgabe stilisiert worden. Als er dann bezwungen wurde, genügte das aber nicht. Buhl war nicht Held, sondern Außenseiter. Woran liegt das?

Buhl gehörte zu den Leuten, die glaubten, dass Leistung anerkannt werden würde. Er hat nie begriffen, dass sein Können Neid auf sich zieht. Als er 1953 zur Nanga-Parbat-Expedition nachnominiert wurde, stieg er eine Woche vorher durch die völlig verschneite Ostwand des Watzmanns. Das hatte vorher noch niemand geschafft. Damit hatte er alle seine Himalaya-Kollegen in die zweite Reihe verwiesen. Er machte Sachen, die sich nicht wiederholen ließen.

In Wirtschaftswunder-Deutschland wurde der Berg zur Karriereplattform?

Buhl verkörpert den Umschwung vom Eliteprivileg zum Massenphänomen. Mit ihm beginnen nicht nur wohlhabende Expeditions-Herren auf die exotischen Gipfel zu steigen. Buhl selbst war in seiner bürgerlichen Existenz gescheitert – jemand, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug. Seinen Beruf als Speditionskaufmann übte er nicht aus, weil er nicht in einem Büro sitzen wollte. Er konnte froh sein, wenn er irgendwo als Sportartikelverkäufer arbeiten durfte und wäre beinahe zum Sozialfall geworden. Seine Zähigkeit hatte damit zu tun, dass er sich alles absparen musste. Er soll sogar in Socken oder barfuß geklettert sein. Und er hat sich buchstäblich zum Gipfel durchgehungert. Seine Begleiter mussten zusehen, dass sie unterwegs etwas zu Essen bekamen, denn Buhl aß auf Bergtouren äußerst wenig. Erst nach dem Himalaya-Triumph war er ein gemachter Mann.

Der erste, der auf die Idee kam, einen Achttausender zu besteigen, wählte 1895 ebenfalls den Nanga Parbat. Was suchte er dort, Reichtum?

Nein, der Brite Mummery besaß eine Gerberei, die er als Unternehmer so gut führte, dass er sich bereits mit Mitte Dreißig aus dem Geschäft zurückziehen konnte. Er war der typische Vertreter des Gentleman-Bergsteigers und galt zudem als bester Kletterer Englands. Allerdings war sein Stil so unorthodox, dass er lange vom maßgeblichen Alpine Club nicht anerkannt wurde. Seine Idee, ohne Bergführer zu klettern, traf dort wegen des Risikos auf wenig Gegenliebe. In seinem Buch vertrat er die Ansicht, dass nichts so sehr den Verstand und die Sinne schulen würde, wie allein ins Gebirge zu gehen.

Er ist bei einem solchen Alleingang verschollen. Wie kommt es, dass besonders der Nanga Parbat zum Berg der Individualisten und Abtrünnigen geworden ist?

Der Nanga Parbat hat eine merkwürdig aufspaltende Wirkung: Er sortiert die Seilschaften nach ihrer Qualität. Beim Bergsteigen ist es üblich, in Gruppen zu denken, man arbeitet sich entweder zu zweit zum Gipfel, indem einer den anderen sichert, oder große Mannschaften legen Lagerketten an. Am Nanga Parbat tritt immer wieder der Fall ein, dass eine Gruppe losmarschiert, aber auf dem langen Weg nach oben zerfällt, so dass am Ende einer übrig bleibt. Das war 1953 bei Buhl so, wiederholte sich 1970 mit Reinhold Messner, und auch Mummery sah sich nach dem Ausfall seiner Kameraden gezwungen, nur mit zwei Trägern aufzubrechen. Aus Mummerys Scheitern zogen die Briten den Schluss, dass man Berge dieser Größenordnung nur mit großem Materialaufwand und einem starken Team meistern könne.

Bergsteigen wurde zur Bühne des ideologischen Zeitalters?

Ja. Nehmen sie die deutsch-österreichische Expedition, der Buhl angehörte. Sie stand ganz im Zeichen einer „Gipfelgemeinschaft“, in der sich jeder demselben Ziel unterordnen sollte. Einzelgänger waren nicht vorgesehen. Die Mannschaftsleistung, das Ineinandergreifen aller Kettenglieder, sollte den Sieg ausmachen. Was nichts anderes bedeutete als eine Miniaturversion der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Noch bis in die 70er Jahre stellte der Expeditionsleiter Karl Maria Herrligkoffer seine Gipfelteams nur aus Deutschen und Österreichern zusammen – selbst wenn er dafür bewährte Seilschaften auseinanderreißen musste. Die Männer sollten gewissermaßen eine durch Autorität zusammengeschweißte Phalanx bilden, die sich wie ein Stoßtrupp den Berg hinaufschob. Der Innsbrucker Buhl war da ein sprengendes Element. Schließlich war das Unternehmen eigentlich schon abgeblasen, als Buhl zu seinem Alleingang startete.

Ist ihm dieser Putsch verziehen worden?

Nein, Buhl desavouierte mit seiner Aktion die Idee des Mannschaftssiegs.

Der Nanga Parbat als Berg der deutschen Komplexe?

Das trifft es. Typisch ist das Wort Paul Bauers, des deutschen Himalaya-Papstes, der sagte: „Wir haben das Gewehr beiseite gelegt und den Eispickel in die Hand genommen.“ Das Trauma des Ersten Weltkriegs sollte in den Bergen wieder gut gemacht werden. Nach der Katastrophe von 1937, als beinahe die gesamte deutsche Kletter-Elite am Nanga Parbat von einer Lawine getötet worden war, sagte Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, „Deutschland bleibt führend im opferreichen Kampf um die Gipfel“ – führend, weil man mehr Tote hatte. Insofern war das Bedürfnis, Buhl als Nationalhelden zu umarmen, immens. Aber der wollte nicht. Buhl mochte diese NS-Diktion nicht, im Zweiten Weltkrieg war er „bloß“ Sanitäter gewesen.

Sofort fallen Parallelen zu Reinhold Messner auf. Auch sein erster Achttausender war der Nanga Parbat, er war ein geübter Alleingeher, extrem schnell und ehrgeizig.

Richtig. Was beide überdies verbindet, ist die vollkommene Missachtung des Gipfelglücks. Statt Freude empfinden sie nur Leere und Erschöpfung. Endorphine sind ihnen nie in den Kopf geschossen – auch nicht nachträglich. Mit Messner beginnt die Psychologisierung des Erlebnisses. Dafür hatte Buhl kein Instrumentarium. Er hat sich vermutlich auch gar nicht so genau beobachtet. Er war ein Manager am Berg, der sich eine Wand ansah, die Kletterprobleme erkannte und Lösungen suchte.

Dass er dann bei einem relativ leichten Problem abstürzte, hat sich Messner damit erklärt, dass jemand, der zum Außenseiter gemacht wird, seinen Überlebensinstinkt verliert.

Eine schöne Theorie, aber bedenken Sie, wie viele Bergsteiger bei ähnlichen Unfällen sterben, ohne Außenseiter zu sein.

Vielleicht hat Messner für sich ein Rezept finden wollen, als Reizfigur zu überleben. Er stellt ja insgeheim die Frage: Wie kann ich den Druck der Öffentlichkeit verarbeiten, damit er mich bei meinen Abenteuern nicht stört?

Auch Messner katapultierte sich ins Abseits, als ihn seine Südtiroler Heimat als Held feiern wollte. Er zog ein altes Taschentuch aus der Hose mit den Worten: „Das ist meine Fahne.“ Das war der Verrat an der Idee, dass einer für alle zum Gipfel marschiert.

In letzter Zeit wird der Ruf wieder laut, Messner habe seiner Rekordsucht auch den eigenen Bruder und Seilpartner Günther geopfert. Er soll ihn 1970 am Nanga Parbat im Stich gelassen haben.

Seine Kritiker können für dies Behauptung keinen einzigen nachprüfbaren Beweis vorlegen. Außerdem übersehen sie eine andere Seite seines Ehrgeizes. Er ist nicht nur der Alleingänger, der immer noch weiter kann, während seine Begleiter erschöpft aufgeben müssen. Er hat auch eine starke patriarchalische Ader. Und wenn der Häuptling merkt, dass ein Mitglied seines Clans in Schwierigkeiten gerät, tut er alles, um es zu retten. Da motiviert ihn eine starke innere Loyalität.

Das passt gar nicht zu einem, der ständig Eigenverantwortung predigt.

Ja, das ist ambivalent.

Also hat ihn der Tod seines Bruders zum Alleingänger gemacht?

Nicht unmittelbar. Erst zwei Jahre später hatte Messner die Nase von Groß-Expeditionen endgültig voll. Er fühlte sich von einer umständlichen Apparatur gebremst, ohne die er viel besser voranzukommen glaubte. Also rüstete er alpine Klein-Unternehmungen aus und leitete die Demokratisierung des Höhenbergsteigens ein. Denn 200 Kilogramm Gepäck, das bekommt jeder zusammen. Und auch in Achttausender-Wänden kann sich jeder frei bewegen, wenn er den Mut dazu hat. Dass er schließlich ganz alleine zum Nanga Parbat aufbricht, ist nur ein weiterer konsequenter Schritt.

Ist Messner deshalb der „letzte“ Bergsteiger?

Er hat es zum letzten Mal geschafft, das Bergsteigen als eine Geisteshaltung zu definieren und eine Antwort auf die Frage zu finden, warum man überhaupt auf Berge hinaufgehen soll. Gleichzeitig ist er insofern der Letzte, als sich das Bergsteigen jetzt aufspaltet – in einen Massentourismus und einen Minimalismus. So ist Messner vielleicht, ohne es zu wissen, der letzte heroische Bergsteiger.

Das Gespräch führte Kai Müller.

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