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Kultur: Die Zeit hat viele Zimmer

Kafkas Liebe, Rilkes Glauben: Das Deutsche Literaturmuseum in Marbach zeigt, was Schriftsteller 1912 bewegte.

Haben die Deutschen eine Obsession, was Gedenktage angeht? Interessieren wir uns so stark für die Vergangenheit, weil wir uns von der Zukunft nichts mehr erhoffen? Das vermutet der an der Stanford University lehrende Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinem Buch „Unsere breite Gegenwart“ schon im Jahr 2010 erklärte, nicht mehr eine auf den Fortschritt ausgerichtete Geschichtsphilosophie sei heute das Paradigma der Kulturwissenschaften, sondern die Verräumlichung von Geschichte in der Präsenzerfahrung des ästhetischen Augenblicks.

Im Deutschen Literaturmuseum auf der Marbacher Schillerhöhe ist dieser Paradigmenwechsel schon seit einigen Jahren zu beobachten. Es ist deshalb kein Zufall, dass man sich für die diesjährige Jahresausstellung von Gumbrecht hat inspirieren lassen, der in seinem Buch „1926 – Ein Jahr am Rand der Zeit“ das erzählende Nacheinander durch das räumliche Nebeneinander gleichzeitiger Ereignisse ersetzt hat. Die Marbacher Schau „1912 – Ein Jahr im Archiv“ ist so gestaltet, als ob sie sich ein Wort aus Richard Wagners „Parsifal“ zu eigen gemacht hätte: „Zum Raum wird hier die Zeit.“

1912 war nicht nur das Jahr, in dem die Titanic mit einem Eisberg zusammenstieß. Robert Scott erreichte den Südpol, und der Tango avancierte zum Modetanz in Europas Ballsälen. Doch die Ausstellung zielt nicht auf den repräsentativen Panoramablick. Sie sei, so der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Ulrich Raulff, vielmehr als „Probebohrung in den Permafrost der Geschichte“ zu verstehen: „Wir wissen nichts von der Geschichte, nur Oberflächliches.“ Gumbrecht selbst plädiert im Katalog dafür, den Anspruch preiszugeben, „aus der Geschichte zu lernen“. Nicht Vermittlung mit der Gegenwart sei das Ziel, sondern „Vergangenheit zu isolieren und präsent zu machen“. Bei dem, was Gumbrecht „Präsenz-Epiphanie“ nennt, geht es nicht um Verstehen und Erklären, sondern um ein „möglichst direktes, unmittelbares Einfühlen in eine vergangene Zeit“.

Der „Duft von 1912“ soll also beschworen werden. Die Schau wurde von drei jungen Wissenschaftlern der Universität Tübingen gestaltet und ist Teil des Projekts „Wissen und Museum – Archiv, Exponat, Evidenz“, das Wissenschaft und Museumsarbeit verzahnen will. Thomas Thiemeyer, Felicitas Hartmann und Yvonne Schweizer haben aus dem Marbacher Archiv acht „Leitexponate“ aus dem Jahr 1912 ausgewählt und sich von ihnen die Stichworte vorgeben lassen. Dazu gehören Guillaume Apollinaires Gedicht „Zone“, Franz Kafkas erster Brief an seine spätere Verlobte Felice Bauer, Notizen von Heinrich Mann zu seinem Roman „Der Untertan“, Rainer Maria Rilkes Konzeption seines „Marien-Lebens“, Gottfried Benns „Kleine Aster“ aus seinem Debütband „Morgue“ und eine Tagebuchnotiz von Harry Graf Kessler, in der er das Szenario der „Josephslegende“ für Sergej Diaghilevs „Ballets russes“ entwirft.

In Apollinaires „Zone“ stehen (in der Übertragung von Fritz Max Cahén) die Verse: „Du liest Prospekte Kataloge Affichen die singen mit kräftigen Lungen / Das ist Dir Dichtung heut Morgen und als Prosa hast Du Zeitungen“. Die Ausstellungsmacher haben sich vom Begriff „Zeitungen“ anregen lassen und zeigen in den Schaukästen, über welche Themen die Presse 1912 schrieb. Die Zeitung mit ihrer unverbundenen Aneinanderreihung von Ereignissen, so die These, wird zum Vorbild für den Montagestil, dessen sich auch die expressionistischen Dichter bedienen.

Dieses dem psychoanalytischen Modell der freien Assoziation folgende Verfahren der Ausstellung gelingt mal mehr, mal weniger überzeugend. Ja, man kann von Kesslers und Hofmannsthals „Josephslegende“ ausgehend zeigen, wie die Zeitgenossen von 1912 Antike und Moderne übereinanderschichten, etwa in Vaclav Nijinskys Choreografie „Nachmittag eines Fauns“, in der ein antikes Sujet mit den Mitteln des modernen, bisweilen sogar obszönen Ausdruckstanzes auf die Ballettbühne gebracht wird. Oder man kann von dem Nietzsche-Kult, den die karikierten Herrenmenschen in Heinrich Manns „Untertan“ betreiben, einen Bogen schlagen zum falschen Goldglanz der Klassikerausgaben, die sich das wilhelminische Bürgertum ins Bücherregal stellte.

Wenn aber von Benns „Kleiner Aster“ aus der Faden nicht nur zu den Blumenornamenten in den zeitgenössischen Buchausgaben weitergesponnen wird, sondern auch zu den welken Blumen der Verwesung in Thomas Manns Sanatoriumsroman „Der Zauberberg“, erreicht dieses Verfahren seine Grenze. Hier lässt einen die Parole „Schauen statt Verstehen“ im Stich. Die Handlung des Romans erschließt sich nicht durch den einfühlenden Blick auf die aufgeschlagene Buchseite. Man muss ihn lesen und die im Raum erstarrte Zeit wieder verflüssigen in die Zeit der großen Erzählung.

Literaturmuseum Marbach, bis 26. August, Katalog 15 € (www.dla-marbach.de)

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