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Kultur: Die Zuhörer im Rücken

Scharouns Konzerthalle hat architektonisch Schule gemacht

Nicht immer sind sich Musik- und Architekturkritiker einig. Doch die Philharmonie eint sie alle: Kein Berliner Bauwerk seit dem Krieg ist einhelliger gefeiert worden. Nicht die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, nicht die Neue Nationalgalerie, ja nicht einmal Daniel Libeskinds Jüdisches Museum. Lediglich einige ausländische Großkritiker konnten sich bissige Bemerkungen nicht verkneifen: „formalistische Versteinerung der romantischeren Spielart der zwanziger Jahre“, so der Amerikaner John Jacobus, „theatralisches Trauma ohne tatsächliche Schockwirkung“, so der Italiener Manfredo Tafuri.

Skeptisch waren damals freilich viele, hat doch Scharoun das „Musikverein-Dogma“ ignoriert, wonach ein wohlklingender, anstandslos funktionierender Musiksaal nur die Schuhschachtelproportionen des berühmten Wiener Etablissements haben könne. Zuschauer (nicht nur Zuhörer!) im Rücken, daran mussten sich die Orchester erst gewöhnen. Und sie haben sich daran gewöhnt. Im Zeitalter der Bildmedien will das Publikum nicht nur hören, sondern auch sehen und dabei möglichst nahe am Geschehen sitzen. Dies erlaubt die Philharmonie besser als alle anderen Säle.

Mittlerweile steht Hans Scharouns Hauptwerk neben Jörn Utzons Oper in Sydney, Mies van der Rohes Seagram Building und Eero Saarinens TWA-Terminal in New York oder später Behnischs Olympiapark in München und Frank O. Gehrys Museum in Bilbao auf dem Olymp der Architektur. Und wie jene Höhepunkte der Architekturgeschichte hat auch die Philharmonie in 40 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren – man vergleiche nur, wie alt „modernere“ Konzerthallen in München oder Köln aussehen.

Er habe versucht, „einem Ort des gemeinsame Musizieren und des gemeinsamen Erlebens der Musik eine entsprechende Form zu geben“ erklärte Scharoun. Wo Musik erklinge, rückten die Menschen immer zum Kreis zusammen. Daher also die ungewöhnliche Arenaform mit Zuschauern rings um das Orchester. Und die Zuschauerränge? Scharoun teilte die Ränge in einzelne Gruppen („Weinbergterrassen“) mit jeweils eigenem Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Entfernung innerhalb der Gruppe ist nur so groß, dass jeder noch das Minenspiel des anderen erkennen kann und sich mit ihm persönlich verbunden fühlt. Massenpsychologie kann daher kaum wirksam werden, es bleibt bei einer intimeren, menschlich-kommunikativen Atmosphäre.

Scharouns Konzeption eines Konzertsaals in Arenaform blieb nicht ohne Folgen, wenngleich sie nicht zum Standard wurde. Ein Dreiviertelkreis der Zuschauer um das Orchester wurde vielfach gewagt, etwa im Kieler Schloss oder bei der geplanten Dresdner Philharmonie. Nach dem Berliner Vorbild geschlossen wurde der Kreis bereits 1976-79 bei der Berwaldhalle in Stockholm und später bei der Waterfront Hall in Belfast. In deutlichster Abhängigkeit von Scharouns Philharmonie gibt sich das Neue Gewandhaus in Leipzig zu erkennen. Dort sind auch Scharouns Zuschauerterrassen wiederholt. Selbst die jungen Londoner Architekten von Urban Future Organization griffen bei ihrem siegreichen Entwurf für eine Konzerthalle in Sarajevo auf Scharouns Raumkonzeption zurück.

Ohne direkte Entsprechung blieb ein anderer, kaum weniger bedeutsamer Teil des epochalen Bauwerks: das Foyer. Viel ist geschrieben worden über die Komplexität der Räume und Ebenen, die Piranesis Raumfantasien der „imaginären Gefängnisse“ gleich kämen. Die Treppenkaskaden sind gepriesen worden, auf denen das Publikum permanent in Bewegung sei und es gebe Raum sich zurückzuziehen oder zu flanieren, man könne je nach Gusto entspannen oder repräsentieren. Wie wenig andere Architekten hat Scharoun sich in den Dienst des Menschen gestellt, hat sich in dessen Psychologie eingefühlt - und die ist zeitloser, als manch einer denkt.

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