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Kultur: Die Zukunft der Menschheit

Komm und schau, was im Fernsehen läuft!", weckt mich Lauri Fürstenberg, Mitkuratorin der Ausstellung "The short century", an der ich mit meinen Fotografien beteiligt bin und die von Berlin nach Chicago gewandert ist.

Komm und schau, was im Fernsehen läuft!", weckt mich Lauri Fürstenberg, Mitkuratorin der Ausstellung "The short century", an der ich mit meinen Fotografien beteiligt bin und die von Berlin nach Chicago gewandert ist. Vor zwei Tagen aus Chicago gekommen, bin ich Gast in Lauris Wohnung, Downtown Manhattan. Im Fernsehen sehe ich Rauch und Menschen mit Asche im Gesicht, ich denke: ein Film über neu entdeckte Mumien in Ägypten. Dann schauen wir aus dem Fenster und sehen die gleichen Bilder draußen, in der Wirklichkeit. Es ist kurz nach Zehn, da brechen vor unseren Augen die Twin Towers zusammen, der erste, der zweite. Wo das World Trade Center stand, ist der Himmel schwarz. Ich sage, ich muss hinaus, muss dort hin!

Die Katastrophe, kaum einen Kilometer entfernt. Ich muss hinaus, mit der Kamera - das ist mein Beruf. Lauri Fürstenberg weint, neben dem Entsetzen, das jeder spürt, hat sie eine besondere Panik: "Das ist zu gefährlich, die Leute werden dich killen!"

Zum Thema Online Spezial: Terror und die Folgen Ich bin in Casablanca geboren, aufgewachsen in Frankreich. Ich bin Franzose. Meine Eltern sind Emigranten. Ich habe einen französischen Pass, lebe in Paris. "Aber die Amerikaner werden denken, du bist ein Araber!" Ich renne Richtung World Trade Center, das es nicht mehr gibt, komme zur Chambers Street, nur noch ein paar hundert Meter bis zu dem Ort, wo es geschah. Menschen fluten nach Norden, nach Süden, Fliehende und die, die helfen wollen oder ihre Angehörigen suchen. An der Canal Street haben Polizei und Feuerwehr mit den Absperrungen begonnen. Journalisten und Kameraleute zeigen ihre Ausweise, werden durchgelassen, im Staub und Chaos. Ich habe keinen Presseausweis, aber ich fange an zu dribbeln. Wie beim Fußball. So komme ich durch die erste Absperrung, gelange näher heran an Ground Zero. Und ich sehe in die Gesichter der Polizisten, sehe ihre Nervosität und sehe an ihren Blicken, dass man mich für einen Anderen hält. Ich verkörpere jetzt ein fremdes Image, den alien, den möglichen enemy.

Und nun packt mich selbst die Angst

Als ich in der Church Street, nahe Ground Zero, gegen 14 Uhr am 11. September das hier abgebildete Foto des jungen Mannes mache, der sein Gesicht mit der amerikanischen Flagge gegen Ruß zu schützen sucht, läuft ein Polizist auf mich zu, schreit, hier sterben zehntausend Menschen, und du machst Fotos! Die Angst des Polizisten ist offenbar umgeschlagen in Hass - nun packt mich selbst die Angst. Ich habe fast überall auf der Welt fotografiert, aber noch nie bin ich so schnell gerannt, aus Furcht um mich und die Kamera. Die Kamera gehört zu mir, zur Arbeit, zum Leben. Aber die Polizisten, die mich für einen möglichen Terroristen halten, wissen nicht, ob diese Kamera nur eine Kamera ist: weil ich nicht die üblichen Teleobjektive benutze und nie durch den Sucher schaue. Wenn ich Menschen fotografiere, sehe ich sie an, direkt, nicht durch das Objektiv. Nur so werden sie für mich keine Objekte, sondern bleiben Menschen. Ich beute niemals die Trauer oder die Verletzung von Menschen aus. Nie habe ich in drei Jahrzehnten, in denen ich auch in Asien oder in Afrika gearbeitet habe, Verhungernde oder Sterbende fotografiert. Mit solchen Bildern, die die Tragödie in künstlichen Farben verschönern, kann man auf leichte Weise reich werden. Aber ein Fotograf darf nicht zum Jäger, nicht zum Schönfärber werden.

Nach dem großen Unglück das Glück

Fotografieren heißt für mich: nicht Farbe, sondern Licht geben. Licht ins Dunkle. Darum sind alle meine Bilder schwarzweiß und immer von eigener Hand abgezogen. Du musst als Fotograf etwas geben, nicht einfach nur das Leben mit der Kamera nehmen. Das wird sonst eine Reproduktion der Gewalt. Der Fotograf, der etwas gibt, muss selber erfahren, was ist. Deshalb musste ich am 11. September und den folgenden Tagen in den Straßen von New York fotografieren.

Als ich am 12. September zur Polizeistation ging, um eine Fotoerlaubnis für Ground Zero zu bekommen, haben mich die Beamten erst auf Spanisch angesprochen. Als ich ihnen englisch sagte, ich bin Franzose, haben sie gesagt: Oh nein, Sie sind Araber! Auch später, als ich einen offiziellen Presseausweis vorwies, haben sie mir den Zugang nach Ground Zero verweigert. Aber ich habe die New Yorker am Rande des Orts fotografiert. Viele Menschen haben mir ihre Geschichte erzählt. Auch ein Mann, dessen Frau am Morgen des 11. Septembers erstmals die sechsjährige Tochter mit in ihr Büro im World Trade Center genommen hat. Als sie zu Hause anrief und sagte, ich glaube, wir haben hier ein Erdbeben, riet ihr der Mann: Kommt raus, nehmt auf keinen Fall den Aufzug! Später erfuhr der Mann, der seine Frau und sein Kind verloren hat, dass die Aufzüge zu diesem Zeitpunkt noch funktionierten und das die beiden wohl gerettet hätte.

Die Angst vor den Uniformierten, die den New Yorkern doch Schutz boten, habe ich in den Septembertagen nie verloren. Aber nach dem großen Unglück habe ich auch das Glück gesehen. In New York, wo sonst keiner nach keinem schaut, haben Menschen plötzlich gemeinsam geweint und gelacht, haben sich Fremde in den Arm genommen; es gab dort in Downtown eine nie gekannte Verbundenheit aller Nationen, Hautfarben, Religionen. Ich habe viel um den Union Square herum fotografiert - und am Union Square sah man sie wirklich: die Vereinten Nationen. Es war die Zukunft der Menschheit.

Aufzeichnung, Übersetzung aus dem Englisch

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