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Kultur: Dies ist kein Abenteuer, dies ist das Leben

Zauberwelt in Schieflage: Der fünfte Band „Harry Potter“ ist ein bisschen ernster als seine Vorgänger

Das waren noch unschuldige, große Momente, als Harry Potter, wohnhaft im Einbauschrank unter einer Treppe im Ligusterweg, zum ersten Mal in der magischen Winkelgasse einkaufen gehen oder die geweihten Stufen Hogwarts emporsteigen durfte... Alle Umstehenden wussten vom Kampf seiner Eltern gegen Lord Voldemort, und sobald sie Harry an seiner Zickzacknarbe erkannten, machte sich ehrfürchtiges Tuscheln breit. Nun aber, längst hat Harry selbst mehrmals erfolgreich gegen Voldemort gekämpft, haben sich die Vorzeichen geändert. Dank einer Verleumdungskampagne des „Daily Prophet“ – jener dem Zaubereiministerium nahe stehenden Tageszeitung – wird Harry zu Beginn seines fünften Schuljahres von vielen nicht mehr als Held, sondern als pubertierender Prahlhans angesehen. War er vor den Sommerferien im Kampf nur knapp Lord Voldemort entronnen, will ihm mancher nun nicht einmal glauben, dass Voldemort überhaupt (wieder) existiert.

Harry selbst hingegen muss befürchten, dass er vielleicht enger mit dem Bösen verbunden ist, als ihm lieb sein kann. Die Narbe auf seiner Stirn schmerzt immer häufiger – ein Signal für die Nähe des Bösen, so hatte er es bisher immer verstanden. Oder ein Portal, durch das Voldemort Einfluss auf seine Gedanken, Träume, ja eventuell gar nächtlichen Handlungen nehmen kann? Diese unheimliche Präsenz des Dunklen Lords, kombiniert mit den zahllosen Knüppeln, die übelmeinende oder bloß ahnungslose Erwachsene den kindlichen Helden zwischen die Beine werfen, reicht für viele Stationen einer verwickelten Handlung, ein ausgedehntes Finale inklusive. Spannend ist das Ganze also sehr wohl; aber besonders „düster“, wie vorab mit Kennermiene insbesondere von der britischen Regenbogenpresse spekuliert wurde? Nein, sorry, so richtig düster kann man das Geschehen nun wirklich nicht nennen. Und die „Nachricht“, eine der drei Hauptfiguren werde sterben, war natürlich eine Ente; obwohl auch in diesem Band, wie schon im vorigen, einer von Harrys Mitstreitern ums Leben kommt. Nicht einmal dem Klappentext darf man ganz trauen, wenn dieser etwas zu großspurig verheißt, Harry werde eine Entdeckung machen, die sein Leben „auf den Kopf stellen“ werde.

Qualen eines Teenagers

Hier, wie im Falle des „Daily Prophet“, weiß man also nicht genau, wer welches Gerücht in die Welt gesetzt hat, und zu welchem unedlen Zwecke. Wenn sich „Harry Potter und der Orden des Phoenix“ nun aber doch nicht als das Gruselpaket schlechthin erweist, als das er vorab angepriesen wurde, lässt ihn das doch kein bisschen schlechter dastehen als die vorigen vier. Die Versuche des 15-jährigen Helden, eine aus der Ferne verehrte Ravenclaw-Schülerin zu seiner ständigen Begleiterin zu machen, sorgen für viele komische Szenen; die „Ordinary Wizarding Levels“, die am Ende des Schuljahres abgelegt werden müssen, für Zauberkraft und Prüfungsangst; die Konkurrenz zwischen Hogwarts und Zaubereiministerium für zusätzliche Komplikationen. Wie in jedem Potter-Band schüttelt Joanne K. Rowling auch diesmal wieder neue Orte, Einrichtungen, Fabelwesen aus dem Ärmel. Und wie jedes Mal, wenn sie sich selbst die Aufgabe gestellt hat, derlei weiße Flecken auf der Landkarte der Zaubererwelt auszufabulieren, sind ihrer Fantasie Elfenflügel gewachsen. Man freue sich allein auf all die Ungeziefersorten, die den Dumbledore-Verbündeten, die im geheimen Hauptquartier des Phoenix-Ordens untergeschlüpft sind, den konspirativen Alltag schwer machen, oder auf die zahlreichen Abteilungen des Zaubereiministeriums. Eine Besenprüfstelle, ein Büro für Goblinverbindungen, das Amt für magische Unfälle und Katastrophen oder die Pest-Beratungsstelle? Es scheint in der Tat unerlässlich, dass sich das Ministerium solcher Fragen regulierend annimmt, denn die Stationen des St.-Mungo- Krankenhauses wiederum verraten, wie viel im Zaubererleben schiefgehen kann; hier werden unter anderem Verletzungen durch Kesselexplosionen, Drachenpocken, unkontrollierbares Kichern und unaufhebbares Verhextsein behandelt.

Viele Unfälle passieren auch einfach dadurch, dass junge Hexen und Zauberer eine neu erlernte Sache auf die zu leichte Schulter nehmen. „Der Verschwindenlass-Zauber wird mit zunehmender Komplexität des Tieres, das man verschwinden lassen möchte, immer schwieriger. Die wirbellose Schlange stellt keine große Herausforderung dar; ein Säugetier wie die Maus eine umso größere. „Dies ist also“, warnt daher Professor McGonagall, „kein Zauber, den man nebenher ausführen sollte, während man mit den Gedanken bereits beim Abendessen ist!“ Ohnehin verfügt McGonagall über die unnachahmlich britische Fähigkeit, auch in Krisensituationen noch wohlgesetzte Worte zu finden, zum Beispiel als die Weasley-Zwillinge in Hogwarts’ Hallen ein enormes Feuerwerk gezündet haben. „,Ach je!‘, sagte Professor McGonagall trocken, als einer der Drachen in ihrem Unterrichtsraum herumflatterte, dabei einen Knall nach dem anderen von sich gab und Flammen spuckte. ,Miss Brown, wären Sie bitte so nett, zur Rektorin zu laufen und ihr mitzuteilen, dass wir entflohenes Feuerwerk in unserem Klassenzimmer haben?‘“

Es ist die einfallsreiche und liebevolle Arbeit an der Kulisse, es sind die wie selbstverständlichen und oft sehr humorvollen Dialoge des Zauberschüleralltags, die Rowlings Geschichten so lesbar und lesenswert machen; nicht unbedingt die standardisierten Tricks und Kniffe, mit denen mittlerweile jeder Potter-Plot vorangetrieben wird. Daueringredienzien wie Onkel und Tante Dursley mit ihrer geradezu bemitleidenswerten Stupidität haben sich wohl langsam einen Urlaub verdient, wohingegen man das Schulfach der „Verteidigung gegen die dunklen Künste“ gern endlich dauerhaft mit einer kompetenten Kraft besetzt sähe – zumal es schwer werden dürfte, Absurdität und Unglaubwürdigkeit einer Figur wie Professorin Umbridge im nächsten Buch noch zu steigern.

Nicht immer elegant fallen auch die Ausflüchte und Missverständnisse aus, die plausibel machen sollen, warum der junge Mensch in Not sich nicht einfach einem Erwachsenen anvertraut, statt selbst zu den Waffen zu greifen. In diesem Band lässt die Autorin ihren Helden sich in einen übertriebenen Keiner-beachtet-mich-Wahn hineinsteigern, während ihn doch tatsächlich eine hochkarätige Zauberereskorte nach der anderen von A nach B begleitet und dabei Kopf und Kragen für ihn riskiert. Bisweilen, wenn sich Harry den Wonnen des Selbstmitleids allzu teenagerlike hingibt, ist man als Leser geneigt, sich der Meinung des Wandgemäldes von Phineas Nigellus anzuschließen: „Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich habe Besseres zu tun, als mir die Qualen eines Heranwachsenden anzuhören...“

Der Riss zwischen Gut und Böse

Aber noch aus einem weiteren Grund trabt Harry manchmal einsam durch Hogwarts’ Korridore und verbeißt sich in trübe Gedanken. Die düstere Seite, die diesem fünften Potter-Abenteuer vorab angedichtet wurde – es weist einiges darauf hin, dass Rowling tatsächlich versucht hat, sie zu verstärken. Nicht dass sie die Handlung grausamer machen wollte, das gerade nicht, sondern dass sie versucht hat, die Grausamkeit dieser (wie jeder) Geschichte sichtbar zu machen, in der sich Gut und Böse einen Kampf auf Leben und Tod liefern. An manchen Stellen kann Rowling Schmerz und Trauer glaubhaft zeigen. An anderen nicht. „Ihr wisst nicht“, klagt Harry lautstark Ron und Hermine, „wie es wirklich ist! Keiner von euch hat ihm gegenübergestanden, stimmt’s? Ihr denkt, man lässt einfach ein paar Zaubersprüche auf ihn los, so wie in der Schule, ja? Aber die ganze Zeit weiß man..., dass man nur eine Nanosekunde davon entfernt ist, getötet zu werden, oder gefoltert, oder einen Freund sterben zu sehen – wie das ist, haben die uns nicht in der Schule beigebracht...“ Dies ist kein Abenteuer, dies ist das Leben! – belehrt der Abenteuerheld von der Mitte seines Buches aus seine Leser. Man müsste jetzt noch einmal kurz in der Haut eines Kindes stecken, um zu erfahren, wie sich das anfühlt: Jahrelang trichtern sie einem ein, Zauberei, das ist nur eine Geschichte, das gibt’s nicht wirklich – und jetzt dies!

Der Erwachsene wiederum, er hört auch ohne die Ankündigung mit dem ganz großen Gong Anspielungen heraus, sieht Ähnlichkeiten zwischen der Schieflage der magischen Welt und der der Muggel. Haben manche Leser bisher etwa gehofft, Zauberer hätten aufgrund ihres Zugangs zu Sprüchen und Trünken eine privilegierte Beziehung zur Wahrheit? Von wegen! In ihrer Angst, einer schlechten Nachricht ins Gesicht zu sehen, lassen sie sich lieber von einer schlechten Informationspolitik belügen. Wirkte Dumbledore wie ein Unterpfand, dass ein Philosophenstaat vielleicht doch machbar ist? Auch er muss bisweilen einen Fehler einräumen; und er kann zu bequem damit leben, wie die Hauselfen Hogwarts’ schuften – wogegen Hermines politischer Instinkt rebelliert. Haben wir wenigstens geglaubt, Harry und seiner Familie sei versprochen, immer im Recht und auf der Seite des Guten zu stehen? Aber nein, seine Narbe warnt vor einer Gefahr, vor der sich niemals in Sicherheit bringen kann. Nicht von ungefähr hatte ihm der Sprechende Hut zunächst angeboten, ihn im Hause Slytherin unterzubringen. Er hat abgelehnt; aber schon da hatte er seine Unschuld längst verloren. Und gerade deswegen kann man sich so ruhig zurücklehnen, eine gute Flasche Hogsmeader Butterbier aufmachen, Rowling bei ihren Flohpulverreiseerzählungen zuhören und sich dabei ganz ohne schlechtes Gewissen amüsieren.

J.K. Rowling: Harry Potter and the Order of the Phoenix. Bloomsbury Publishing, London 2003, 766 Seiten, ca. 16,90 Euro (keine Preisbindung). Deutsche Ausgabe im November.

Mara Stein

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