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Dieter Kosslick ist der Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin.

© dpa

Dieter Kosslick im Interview: "Eine Berlinale unter Polizeischutz wäre das falsche Signal"

Berlinale-Direktor Dieter Kosslick über die Sicherheit auf dem Festival, „Shades of Grey“, politische Filme - und den Schienenersatzverkehr zum Potsdamer Platz.

Herr Kosslick, was Sagen Sie...

... zu „Charlie Hebdo“?

Nach den Anschlägen in Paris haben wir uns gefragt, stehen wir mit unserem Programm in der Mitte der Gesellschaft? Ich denke: ja, quer durch alle Sektionen.

... zur Sicherheit?

Es gibt mehr Sicherheitsvorkehrungen, aber so diskret wie bisher. Eine Berlinale unter Polizeischutz wäre das falsche Signal. Wir schreiben auch nicht „Je suis Charlie“ auf unsere Fahnen. Wir hatten schon zwei Motto-Jahre, 2003 mit „Towards Tolerance“ und 2002 mit „Accept Diversity“. Das könnten wir jetzt wieder auf die T-Shirts drucken. Wichtiger ist, dass wir die Slogans mit unserem Programm einlösen.

... zur politischen Berlinale?

Manchmal denke ich, wir sind die „Tagesschau“. Keine weltpolitische Frage, die nicht auf dem Programm steht. Die Kollateralschäden der Globalisierung, die Folgen der Finanzkrise, die Millionen Flüchtlinge, Naturkatastrophen, Folter, ethnische Säuberungen ... Im Wettbewerb zeigen wir Patricio Guzmáns Dokumentarfilm „Der Perlmuttknopf“. Da wird im Meer ein Knopf an einer Eisenstange gefunden, das letzte Zeugnis des grausamen Schicksals von 3000 Chilenen, die gefoltert und an Eisenstangen aus dem Hubschrauber ins Meer geworfen wurden. Der Film macht klar, dass Pogrome nicht vom Himmel fallen, sondern eine jahrhundertelange Vorgeschichte haben.

... zur Religion?

Es gibt gleich zwei Wettbewerbsfilme über den Religionswahn. Der Schwarz-Weiß-Film „Aferim“ erzählt von der Verfolgung von Juden und Roma Mitte des 19. Jahrhunderts in Rumänien. Ein katholischer Mönch hält eine Philippika auf alle Nationalitäten, Andersgläubigen und Minderheiten. Da kann man Diskriminierung und Fanatismus in Reinform erleben. Bei „El Club“ aus Chile geht es um eine Art Austragshäusl, wie man sie aus Bayern kennt. Dort werden katholische Priester entsorgt, die Tausende von Kindern missbraucht haben. Es verschlägt einem die Sprache. Ich hoffe, der eine oder andere katholische Priester schaut sich das an.

... zur Gerechtigkeit?

Bei Fremdenhass und Fanatismus geht es immer auch um Klassenverhältnisse. Darum, die Macht aufrechtzuerhalten und um eklatante Ungerechtigkeit – das wird in vielen Filmen deutlich. Ob in Saudi-Arabien ein Blogger ausgepeitscht wird, ob in Guantánamo Häftlinge über Jahre ohne Gerichtsverfahren sitzen oder sich in Rumänien die alte korrupte Nomenklatura in die neuen Verhältnisse hinüberrettet – von Letzterem handelt der Panorama-Film „Why Me?“.

... zu Jafar Panahi?

Wir haben ihn und seinen neuen Film eingeladen. Seine Situation im Iran hat sich nicht verändert. Er ist nach wie vor zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt, die er zum Glück bisher nicht antreten musste. Trotz Berufsverbots hat er zum dritten Mal einen Film gedreht, „Taxi“.

... zum verpassten Film 2015?

Wir hätten sehr gerne „Selma“ als Weltpremiere gezeigt, Ava DuVernays oscar-nominierten Film über Martin Luther King. Aber es ist eine britisch-amerikanische Koproduktion, und der USStart zum Martin-Luther-King-Tag im Januar gilt nach den Regeln eines A-Festivals als Auslandsstart. Also darf er nicht mehr im Wettbewerb laufen, sehr schade. Jetzt läuft er in der Special-Reihe im Friedrichstadt-Palast.

... zu den Frauen auf der Berlinale?

Es ist doch erstaunlich, dass in der 65-jährigen Geschichte der Berlinale nur drei Mal eine Frau den Goldenen Bären gewonnen hat, die Ungarin Marta Mészáros vor genau 40 Jahren, außerdem Jasmila Zbanic 2006 und Claudia Llosa 2009. 

... zum Eröffnungsfilm von Isabel Coixet?

In „Nobody Wants the Night“ – von einer Regisseurin! – spielt Juliette Binoche Josephine Peary, die ihrem Mann vor gut 100 Jahren in die Arktis gefolgt ist. Sie nahm ihr Tafelsilber mit, trank dort Château D’Yquem. Binoche zeigt den Männern, wo’s langgeht, aber hallo! Die Geschichte wird bekanntlich von Männern geschrieben, wer weiß, vielleicht war es in Wahrheit Jo Peary, die anders als ihr Mann tatsächlich am Nordpol ankam. Außerdem präsentieren wir im Wettbewerb Filme der Italienerin Laura Bispuri und der Polin Malgorzata Szumowska; bei den Specials gibt’s Margarethe von Trotta und eben „Selma“ . Trotzdem: von 50 Prozent sind wir leider noch weit entfernt.

... zu ProQuote Regie?

Die schlagen auf der Berlinale auf, das finde ich gut. Gerade traf ich die Regisseurin Esther Gronenborn, eine der Initiatorinnen. Sie stellen einen Bubble, eine Art Zelt, vor das Ritz Carlton am Potsdamer Platz, um mit Veranstaltungen und rotem Teppich auf die Unterrepräsentanz von Frauen im Filmgeschäft aufmerksam zu machen. Und sie sind mit einem Kamerateam unterwegs.

... zum Talk of the Festival dieses Jahr?

Das werden die acht Serien, die wir an zwei Tagen zeigen, von Netflix bis zu deutschen Serien, etwa „Blochin“ von Mathias Glasner mit Jürgen Vogel. Die großen Filmemacher drehen heute fast alle Serien – ein Top-Thema. Heftige Debatten wird es bestimmt um Guzmans Film geben. Und um Peter Greenaways „Eisenstein in Guanajato“ über den sowjetischen Meister, dem auf einer Mexiko-Reise nicht nur Zweifel am Kommunismus kommen. 

„Shades of Grey“ und ein Ehrenbär für Wenders

Dieter Kosslick ist der Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin.
Dieter Kosslick ist der Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin.

© dpa

... zum Spaßfaktor?

Bei der ersten Berlinale gewann Disneys „Cinderella“ den Goldenen Bären und den Publikumspreis. Diesmal zeigen wir am letzten Tag Kenneth Branaghs neue Adaption mit Cate Blanchett. Da kann man sich verzaubern lassen. Anton Corbijns Film über James Dean feiert Weltpremiere im Zoo-Palast: Robert Pattinson spielt den Fotografen, der Dean mit seinen Fotos zur Ikone machte – Pattinson wird kommen. Und der Beach Boy Brian Wilson kommt zum Beach-BoysFilm „Love and Mercy“ in den Friedrichstadt-Palast.

... zu „Shades of Grey“?

Startet während der Berlinale im Kino. Wir wären doch mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir uns die Premiere im Zoo-Palast entgehen lassen würden. Millionen Menschen wollen diesen Film sehen. Das wird ein Hit, im wahrsten Sinne des Wortes!

... zu fünf Deutschen im Wettbewerb?

Das Spektrum könnte nicht größer sein, thematisch wie stilistisch. Drei Regisseure kommen mit deutschen Sujets, Sebastian Schipper mit seinem Kreuzberg-Thriller „Victoria“, Andreas Dresen mit seinem Leipzig-Film „Als wir träumten“, Oliver Hirschbiegel mit „Elser“, über jenen aufrichtigen Schwaben, der versuchte, Hitler umzubringen. Werner Herzog zeigt seine US-Produktion mit Nicole Kidman als „Queen of the Desert“ und Wim Wenders „Every Thing Will Be Fine“ in 3-D.

... zu Wolfgang Becker?

Seine lang erwartete Kehlmann-Verfilmung „Ich und Kaminski“? Wir würden sehr gern wieder einen Wolfgang-Becker-Film zeigen, nach dem Riesenerfolg mit „Good Bye, Lenin!“ 2003. Aber der Film ist leider noch nicht fertig.

... zum Ehrenbären für Wim Wenders?

Der erste Wenders-Film, den ich richtig wahrnahm, war „Im Lauf der Zeit“, 1976 in Hof. Da fährt Hanns Zischler einfach mit dem VW in die Elbe, das war für mich eine Offenbarung. Dann „Der amerikanische Freund“, die Sehnsucht nach Neonlichtern, nach Wüste, nach Weite. Oder wie Wenders mit seinem Bap-Film „Viel passiert“ meinen ersten Berlinale-Jahrgang 2002 eröffnete. Oder „Pina“ und jetzt sein Oscar-nominierter Dokumentarfilm „Salz der Erde“ ... ich kann gar nicht alles aufzählen: Wim ist ein Gesamtkunstwerk.

... zu James Franco?

Der kann einfach im Berlinale-Kino sitzen bleiben. Er ist mit drei Filmen im Programm. Mit Wenders, Herzog und dem von ihm selbst produzierten Panorama-Film „I am Michael“.

... zur neuen, parallel laufenden „Woche der Kritik"?

Lasst viele Blumen blühen! Wenn wir die Stadt so sehr inspirieren, dass zeitgleich noch andere Festivals organisiert werden, wunderbar!

... zur Akustik?

Im Berlinale-Palast gibt’s ein neues Soundsystem, Dolby Atmos. Da wird uns bei der Eröffnung der Polarwind nur so um die Ohren pfeifen. Ich rate jedem, seinen Schal mitzubringen.

... zum Schienenersatzverkehr?

Wir dachten zuerst, die Sperrung des Nord-Süd-Tunnels ist eine Katastrophe und wir müssen einen alten Berlinale-Werbeartikel wieder neu produzieren: Vor fast 20 Jahren gab’s eine Festival- Unterhose mit aufgedrucktem Berliner Nahverkehrsnetz. Die Idee wurde verworfen. Man kommt trotz der Streckenstilllegung mit U-Bahn und Bussen zum Potsdamer Platz, die Berliner müssen ja seit Mitte Januar üben. Für unsere auswärtigen Gäste basteln wir einen eigenen Fahrplan.

... zum Kässpätzle-Angebot?

5000 Portionen von 2014 können nicht lügen. Es gibt wieder Food-Trucks am Potsdamer Platz, auch wieder die Spätzle vom „Heißen Hobel“. Dazu drei mit vegetarischem Essen und einen Wagen mit Fleisch. Einschließlich des täglich wechselnden Truck of the Day. Neu ist der Social Bus: Oben sitzt man und erfährt, wo es langgeht in der Welt, unten kann man sich zum Essen hinsetzen.

... zu Ihrer Fitness?

Ich laufe jeden Morgen durch den Tiergarten. Ich jogge nicht, ich laufe auf Schwäbisch, das heißt, ich gehe, egal ob’s regnet oder schneit. Schloss Bellevue, dann über die Große Querallee schräg rüber zum Potsdamer Platz. Tolle Strecke: Ich kann mich nicht mal verlaufen.

... zu Ihrer Vertragsverlängerung bis 2019?

Seit 2001 hat sich die Berlinale von einem schweren Schlachtschiff zu einer wendigen Flotte gewandelt mit vielen Booten. Das wollen wir erhalten. Die Folgen der Digitalisierung werden uns auch in den nächsten Jahren beschäftigen, etwa indem wir Filme auf einer eigenen Download-Plattform anbieten. Eine Art Festival-on-Demand, darüber denken wir nach. Ansonsten ist es wie im Leben: Das Schöne geschieht oft am Schluss, und von dem weiß man nie, wann er kommt.

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