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Kultur: Diktatur im Disneyland

Voll das Leben: „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ beim Theatertreffen

Im Restaurant von „Ruby Town“, wo man für zwei Euro fünfzig eine dünne Linsensuppe bekommt, sitzt eine Frau im angeschmuddelten Maxirock und kratzt sich auffällig im Schritt. Auch, wenn es nicht danach aussieht: Die Filzlausbekämpfung, sagt sie weithin vernehmbar, sei erfolgreich vorangeschritten; und ob man sich das mal anschauen wolle.

Man will allgemein nicht – und spielt bereits in diesem Moment, so die aufdringliche Suggestion von Signa Sørensens zehntägiger Nonstop-Performance-Installation „Die Erscheinungen der Martha Rubin“, ob man will oder nicht, eine Rolle: Die der Filzlausignorantin, der therapiebedürftigen Hygienefanatikerin, der an fremden weiblichen Genitalien und – Achtung (!) – daher möglicherweise auch an anderen relevanten Sachverhalten bedenklich Desinteressierten und so weiter.

An Rollenangeboten herrscht in „Ruby Town“ keinerlei Mangel: Vor dem Filzlauszwischenfall durfte sich die Rezensentin als Wodkatrinkerin, Ost-Puffreis-Käuferin, pragmatische Elendstouristin mit Reportageauftrag oder als Warteschlangensteherin ertappen. Du kannst dich nicht heraushalten, ruft einem diese Installation praktisch an jeder Ecke zu – und transportiert damit eine soziologisch wie lebenspraktisch allgemein anerkannte Binsenweisheit in eine eigentümliche Kunstwelt hinüber.

Diese Kunstwelt namens „Ruby Town“ – entworfen vom dänisch-österreichischen Performance-Ehepaar Signa Sørensen und Arthur Köstler, das sich selbst auch mit attraktiven Rollen bedacht hat – ist optisch irgendwo zwischen Wagenburg, Favela und Ostzonenrandgebiet angesiedelt: Die Bürger hausen in verfallenen Bretterverschlägen oder spärlich beheizten Wohnwagen, bieten – gegen echte Euros – Limonaden, Wodka oder Devotionalien feil, führen Bäuerinnentänze auf und wollen einem in ranzigen Frisierstuben Ponyschnitte andrehen.

Auf der Inhaltsebene kokettiert diese Kunstrealität mit sämtlichen erdenklichen Halbwelt- und Untergangsszenarien. Sie reaktiviert Assoziationen an Diktaturen und Umweltkatastrophen à la Tschernobyl, spielt mit Mittelalter-Folklore und vermischt das Ganze mit einem Schuss Asylpolitik, viel Sex und – wenn man will – sicher auch ein wenig Crime: Man befände sich im Grenzgebiet zwischen Nord- und Südstaaten, heißt es in einem Pflichteinführungsfilm, nachdem man die Installation in der ehemaligen Schöneberger Lokhalle am Priesterweg betreten hat. Aufgrund einer dubiosen Verstrahlung seien hier seit Jahren keine Kinder mehr geboren wurden. Die Stadt wird vom Militär kontrolliert, das einen barsch in Warteschlangen nötigt.

Hat man „Ruby Town“ endlich betreten, fallen zuerst merkwürdig enthüllungswillige Frauen auf, die einen ständig in die „Peep Show“ zerren wollen. Kurzum: Hier wird mit zeitlich komprimierten, entschärften Alltagserfahrungen gedealt. Es ist ein bisschen so, als sei man vor 25 Jahren von der DDR aus über die tschechische Grenze gereist und stände im nächsten Moment auf der Reeperbahn – mit dem Unterschied, dass die Animation grundsätzlich aufdringlicher und die Ausführung dafür nur halb so schlimm ist wie an der realsozialistischen Grenze oder auf dem Straßenstrich. Schließlich möchte man sich als Performer ja keine Körper- oder Persönlichkeitsrechtsverletzungsklage einhandeln.

Nicht nur deshalb hält sich die produktive Wahrnehmungsirritation, die dieser Theaterform attestiert wurde, in überschaubaren Grenzen: In einem derart abgefederten Simulationsspiel nimmt man sich selbst schließlich weniger als sozialer Rollenträger denn vielmehr eben als Spieler desselben wahr – eine relativ gefährdungsfreie Erfahrung, die man als selbstkritischer Mensch andernorts, mit Verlaub, intensiver haben kann. Zumal, wenn man durch die begrenzte Performativkraft einiger Darsteller – es handelt sich meist um Laien – auch noch ständig unfreiwillig auf den Fake gestoßen wird: Klopft man etwa an Tinos offene Wohnwagentür, mutmaßt dieser, man sei wohl „Nordstaatlerin“ (was unschwer zu erkennen ist, weil Tinos Kolleginnen in ihren langen Röcken und Kopftüchern schon auf zehn Meter Entfernung als Kunstfiguren auffallen). Er habe es an den Hosen gesehen, enthüllt Tino ungefragt, Rubytownerinnen dürften nämlich nur Röcke tragen. Man will keine Spielverderberin sein und fragt Tino also, warum. Tino mischt jetzt eine Dosis Lüsternheit in seinen Schizo-Blick und erklärt, das sei einfach praktischer, Röcke müsse man schließlich einfach nur hochschieben.

Kann man sich nun auch noch aufraffen, bereitwillig in die Rolle der Feministin zu schlüpfen oder aber die total Unkonventionelle zu mimen, die jetzt ihrerseits lüstern Hosenöffnungen erklärt? Das ist in „Ruby Town“ die Frage. Wer sie interessant findet, wird hier Spaß haben; wer nicht, wird sich über peinlich an einen aufwendigen Kindergeburtstag erinnernden Mummenschanz wundern.

Die Entscheidung, „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ einzuladen, ist sicher die umstrittenste der diesjährigen Theatertreffen-Jury. Juror Stefan Keim lobt die Installation im tt-Katalog als bewusstseinserweiterndes, „Realität gewordenes Computerspiel“. Man kann „Ruby Town“ indes auch als Diktatur-Disneyland wahrnehmen, wo die Akteure, wenn sie nicht weiter wissen, einfach kurz hinter der Ecke verschwinden und die größte Schlange – Überraschung (!) – immer vor der Peep Show steht. Dort ist die Kunst dem Leben tatsächlich überlegen. Zumindest finanziell: Teilstrips gibt es hier schon für eine Zigarette.

tgl bis 10.5., ab 18 Uhr

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