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Kultur: Dirigent ohne Taktstockgeste

Den Dirigenten vermeint man ihm sofort anzumerken.Im Gespräch sind seine Hände ständig in Bewegung, auf kleinem Raum scheinen sie die ruhig entwickelten Gedanken zu begleiten.

Den Dirigenten vermeint man ihm sofort anzumerken.Im Gespräch sind seine Hände ständig in Bewegung, auf kleinem Raum scheinen sie die ruhig entwickelten Gedanken zu begleiten.Doch der ausgestreckte Zeigefinger, den die Verhaltensforscher "Taktstockgeste" nennen, fehlt.Roland Kluttig geht jenes autoritäre Gehabe ab, das manchen seiner Kollegen zum Pult-Despoten macht: "Ich bin kein Theoretiker, eher praktischer Musiker, der auf der Seite des Ensembles steht." Interpretationen will er gemeinsam erarbeiten, nicht selbstherrlich durchsetzen.Dazu paßt die Lage seiner Dachwohnung am Zionskirchplatz mit weitem Blick über die Innenstadt.Im selben Haus wohnen Musiker des Kammerensembles Neue Musik (KNM), dessen ständiger (aber nicht einziger) Dirigent Kluttig ist, gleich nebenan lebt der Komponist Carlo Inderhees und ist das Büro des KNM untergebracht.

Studiert hat der dreißigjährige Kluttig in Dresden, wo er für sein Diplom einen "Figaro" herausbrachte.In dieser Arbeit tat sich bereits das Spannungsfeld auf, in dem sich alle seine Interpretationen bewegen: das zwischen höchstmöglicher Werktreue und massivem Eingriff in die musikalische Faktur."Tradition wird oft mit Werktreue verwechselt", erklärt Kluttig, der großen Wert darauf legt, die Handschriften der von ihm dirigierten Werke zu studieren, andererseits aber auch Programme gestaltet, in denen verschiedene Konzertstücke ohne Pause direkt ineinander übergehen.Es gilt seiner Ansicht nach, in einer Aufführung dem Werk in der jeweils gegenwärtigen (ästhetischen, räumlichen, gesellschaftlichen) Situation gerecht zu werden, nicht der Tradition seiner Interpretation: "Ich möchte mir das Recht der Neuinterpretation nehmen, auch auf die Gefahr hin, daß es schief geht.Ich will spannende Konzerte haben mit der Möglichkeit zur Überraschung, keine Wiederholung des Bekannten." Mit dieser Haltung harmoniert er vorzüglich mit dem experimentierfreudigen Kammerensemble Neue Musik, zu dem er 1993 stieß.Für das KNM zog er nach Berlin und erarbeitete ein "eher beschränktes, fast elitäres" Repertoire, das Uraufführungen hauptsächlich von der Ost-Berliner Szene entwachsener Komponisten mit den großen Namen der - auch historischen - Avantgarde verbindet.Daß Musik für Kluttig körperlich und gestisch erscheint, mag seine Konzentration auf Varèse, Scelsi und Xenakis erklären, führt aber auch zur Bevorzugung von Helmuth Oehrings emotionsgeladenen Werken vor eher konzeptionell klaren Stücken anderer Berliner Komponisten.Trotzdem läßt er sich auf Musik jenseits seiner ästhetischen Präferenzen ein: "Deshalb bin ich Kapellmeister geworden.Statt dreißigmal die gleiche langweilige Operette zu dirigieren, mache ich lieber dreißig Uraufführungen von zweifelhaftem Wert, obgleich ich natürlich anstrebe, den wirklich zweifelhaften auszuweichen."

Für sein jüngstes Projekt hat Kluttig sogar Ballettstunden nehmen müssen.Auszüge aus Kagels "Staatstheater" bringt er zusammen mit KNM und den Maulwerkern heute um 19.30 Uhr im Schauspielhaus auf die Bühne, eine Kammerfassung des gewaltigen Werkes, in dem Kagel 1971 die Möglichkeiten des Hamburger Opernhauses enzyklopädisch untersuchte.Georg Katzers "Szene" ist ebenfalls eine Musik über Musik, die - nicht ohne politische Spitze - Goethes antiquierten Musikgeschmack bissig aufs Korn nimmt.Zu Silvester und Neujahr greift Kluttig seinem erweiterten Interpretationsbegriff gemäß eine Idee von John Cage auf und veranstaltet unter dem Titel "Apartment House 1998" einen "Musicircus" mit den Melodien des Jahres, die auch das Publikum mitbestimmen darf.Dem gehen Cage-Werke aus den Vierzigern und Miniaturen von Charles Ives voraus (31.12.und 1.1., jeweils 17 Uhr im Podewil).Wieder eines von Kluttigs Konzerten also, die nicht einfach Stücke aneinanderreihen, sondern einen Abend komponieren.

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