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Primadonna risoluta. Barbara Hannigan dirigiert das Mahler Chamber Orchestra.

© Peter Fischli/Lucerne Festival

Dirigentinnen beim Klassikfestival Luzern: Alles hört auf ihr Kommando

Das Klassikfestival in Luzern rückt eine aufstrebende Berufsgruppe in den Mittelpunkt: Dirigentinnen.

„Lasst mich meine Arbeit machen, und ihr werdet keine Fragen mehr haben!“, lautet das Motto von Barbara Hannigan. Die Kanadierin ist weltweit die einzige Sopranistin, die auch dirigiert. Wenn sie sich im Konzert plötzlich zum Publikum umdreht und ihre Stimme erklingen lässt, während sie mit einer Hand weiter Zeichen an die Musiker sendet, sind die meisten im Saal darüber noch erstaunter als über den ungewohnten Anblick einer Frau, die den Taktstock führt.

Ihr Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra beim noblen Lucerne Festival am Vierwaldstättersee zeigt allerdings auch, dass Barbara Hannigans Gestik nichts mit der kapellmeisterlichen Zeichengebung zu tun hat, wie man sie an Musikhochschulen lernt. Die 45-Jährige gibt eher Impulse als präzise Anweisungen, so wie man das auch bei Männern beobachten kann, die Instrumentalisten waren, bevor sie zu dirigieren begannen. Nikolaus Harnoncourt ist hier das prominenteste Beispiel.

Die Kommunikation mit den Musikern funktioniert trotzdem gut. Sei es, weil Barbara Hannigan in den Proben ihre Interpretationsvision gut erklären konnte, sei es, weil das experimentierfreudige, gedanklich äußerst wendige Mahler Chamber Orchestra ihr im wahrsten Wortsinn jeden Wunsch von den Lippen abliest. Denn wenn sie singt – an diesem Abend bei Sibelius’ Tondichtung „Luonnotar“, in der Suite aus Alban Bergs Oper „Lulu“ sowie bei einem Arrangement aus George Gershwins Musical „Girl Crazy“ – ist sie in erster Linie als Sopranistin präsent. Und als Bühnenmensch mit Lust an der Selbstinszenierung. Wenn sie das Konzert zur Show macht, mit Lichteffekten, mit Kostümwechseln und so manchem Flirt mit dem Publikum, passt Hannigans Performance perfekt zum Titel des diesjährigen Festivals: „Primadonna“.

Auf eigene Faust durchziehen

Intendant Michael Haefliger verfolgt ein ehrenwertes Ziel. Zehn Jahre lang ist er mit seiner Idee schwanger gegangen, einen thematischen Schwerpunkt zum Thema Dirigentinnen anzubieten. Immer wieder hat er bei den Spitzenorchestern angefragt, die allsommerlich gerne in Jean Nouvels sensationellem Konzerthaus gastieren. Und immer wieder zu hören bekommen: Wir sind nicht interessiert. Bis sich Haefliger entschloss, die Sache auf eigene Faust durchzuziehen.

Mit zwei Formationen, die seinem Festival seit Langem verbunden sind, dem Chamber Orchestra of Europe und dem Mahler Chamber Orchestra sowie der Lucerne Festival Academy, einem Traineeprogramm für junge Instrumentalisten, bei dem jeweils 130 Hochschüler zusammenkommen, um zeitgenössische Werke zu erarbeiten. Immerhin gelang es ihm, die als besonders frauenresistent verschrienen Wiener Philharmoniker dazu zu bewegen, wenigstens eines der beiden Konzerte, das sie 2016 in Luzern geben, mit einer Dirigentin zu bestreiten.

Die Französin Emmanuelle Haïm allerdings darf nur ein Special-Interest-Programm mit Werken von Händel leiten, während für den repräsentativen Tschaikowsky-Mendelssohn-Abend Tugan Sokhiev von den Wienern verpflichtet wurde. Außerdem lässt Haefliger das São Paulo Symphony Orchestra einfliegen, gemeinsam mit seiner Chefdirigentin Marin Alsop.

Am Ende zählt das Ohr, nicht das Auge

Neben 17 Dirigenten kann der Herr Intendant nun also auch 11 Orchesterleiterinnen präsentieren, dazu zwei Violinvirtuosinnen, die Kammermusikformationen vom ersten Geigenpult aus dirigieren. Dass er sich von Hardcore-Feministinnen postwendend den Vorwurf der Gender-Ghettoisierung einfing, weil die meisten der Maestre bei einem „Erlebnistag“ auftreten, kann er verschmerzen. Weil er weiß, wie das Business funktioniert. Nämlich dreistufig: Um vom Exotenstatus zur Normalität zu kommen, muss man durch die Phänomen-Phase. Wenn eines der renommiertesten Klassikfestivals der Welt dirigierende Frauen ins Scheinwerferlicht rückt, wird es bald Nachahmer in der Provinz geben. Womit dem Ziel einer Gleichberechtigung auf dem Pult durchaus gedient ist.

Während sich Männer durch die Uniform des Fracks als Individuen optisch weitgehend neutralisieren können, müssen Frauen ihre ganz persönliche Kleidungslösung finden – und bieten schon dadurch Pausengesprächsstoff, der von der Konzentration auf die musikalische Leistung ablenkt. Konstantia Gourzi geht mit ihrem hellblauen Gehrock das Problem offensiv an, Elena Schwarz dagegen versucht sich mit ihrem langärmligen Flatterhemdchen quasi unsichtbar zu machen. Anu Tali und Maria Schneider wählen weibliche Spielarten des Fracks zu langen Hosen, Hannigan und Mirga Grazinyte-Tyla wiederum mögen keinen Stoff an den Armen.

So viel zum Thema Dominanz des Auges über das Ohr. Am Ende aber zählt, ob beim Maestro oder der Maestra, dann doch nur, ob das Orchester von der Kompetenz desjenigen, der den Taktstock führt, überzeugt ist. Profis sind da nämlich gnadenlos: Nach spätestens fünf Minuten wissen sie, ob die Chemie stimmt, ob die Proben intensiv werden oder am Ende nur Routine herauskommt.

Männer haben einen Vorsprung 175 Jahren

Bei Mirga Grazinyte-Tyla ist das Ergebnis faszinierend: Weil in Beethovens „Pastorale“ ihre Persönlichkeit spürbar wird. Ein feinnerviges, atmendes Musizieren ist da mit dem Chamber Orchestra of Europe zu erleben, bei dem selbst die berühmte Gewitter-Episode des vierten Satzes ganz ohne Aggressivität auskommt. Als pastellfarbenes Tongemälde legt die 29-jährige Litauerin diese 6. Sinfonie an, zeigt den Klassiker aller Klassiker weder als Aufklärer noch als Titanen, rückt ihn vielmehr in die Nähe von Mendelssohns Märchenromantik. Einen Sommertagstraum erzählt Mirga Grazinyte-Tyla – und bestätigt damit ihren Ruf als größtes Talent unter den Dirigentinnen.

Von Luzern ging es für sie direkt weiter nach Birmingham, wo sie ihren Einstand als neue Chefdirigentin gibt. Schon mehrfach hat das nordenglische Orchester einen guten Riecher bei der Wahl seines Music Directors bewiesen. Zu Garzinyte-Tylas Vorgängern dort gehören Simon Rattle und Andris Nelsons. „Wenn sie es dort nicht schafft, wird man sagen: So spielt das Leben“, kommentierte die „Los Angeles Times“ die Personalie. „Wenn sie es aber schafft, wird sie Geschichte schreiben.“

Weil die in Vilnius und Graz ausgebildete Dirigentin der erste weibliche Pultstar werden könnte. Männer, so ist in diesen Tagen in Luzern immer wieder zu hören, haben eben einen Vorsprung von 175 Jahren. Das Berufsbild des Dirigenten wurde zeitgleich mit jenem Konzertbetrieb geformt, den wir heute gewohnt sind. Durch die Entwicklung der Kompositionstechniken wurden die Orchester größer, was wiederum zur Folge hatte, dass die Ensembles nicht mehr von der Geige oder vom Cembalo aus geleitet werden konnten. Seitdem haben Hunderttausende Herren den Beruf ausgeübt – zu Legenden sind allerdings nur ganz wenige geworden.

Dirigierende Frauen dringen langsam ins Musikleben vor

Und so bedarf es eben auch bei den Dirigentinnen erst einer großen Zahl solide verlaufener Karrieren. Von Künstlerinnen wie Anu Tali zum Beispiel: Die 1972 geborene Estin hat 1997 ihr eigenes Orchester gegründet, um Auftrittsmöglichkeiten zu haben, seit 2013 leitet sie zudem in den USA das Sarasota Orchestra. In Luzern zeigt sie klassische Kapellmeister-Tugenden, setzt bei Prokofjews „Sinfonie classique“ wie bei Eduard Tubins „Estnischer Tanzsuite“ ganz auf Verve und Energie – und bekommt beides auch vom Chamber Orchestra of Europe. Für Chopins Klavierkonzert mit Yulianna Avdeeva wiederum kann sie den passenden leidenschaftlich-romantischen Sound herstellen. Neue Einsichten gewinnt der Hörer zwar nicht, fühlt sich aber angenehm unterhalten.

In den Dirigierklassen der Hochschulen liegt der Frauenanteil inzwischen bei einem Drittel. Und auch, wenn derzeit von den 131 deutschen Orchestern nur zwei Chefinnen haben (Erfurt mit Joana Mallwitz und Wuppertal mit Julia Jones), nachdem es vor zehn Jahren schon einmal vier waren (Simone Young in Hamburg, Catherine Rückwardt in Mainz, Karen Kamensek in Freiburg und Romely Pfund in Solingen): Langsam und beharrlich dringen die dirigierenden Frauen ins Musikleben vor, leiten Chöre, kleine Ensembles, ermutigen durch ihre schiere Präsenz in der Öffentlichkeit die nachfolgende Generation. Und wenn sie Glück haben, dürfen sie einen Dialog belauschen wie Marin Alsop, die nach einem Education-Konzert, das sie in Baltimore geleitet hatte, einen Neunjährigen zu seinem Kumpel sagen hörte: „Später will ich auch mal ein Orchester leiten.“ „Quatsch“, antwortete der Freund im Brustton der Überzeugung, „Dirigieren können doch nur Mädchen!“

Das Festival läuft noch bis zum 11. September. Infos: www.lucernefestival.ch

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