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Dirigentinnen im Musikbetrieb: Das Weib der Zukunft

Unter der Glasdecke: Dirigentinnen – und warum sie sich im Musikbetrieb allmählich behaupten.

Wien, Neujahrskonzert 2004, Live-Übertragung rund um den Globus. Die Totalen aus der prächtigsten Schuhschachtel der Welt: atemberaubend. Die Blumenbouquets im Closeup: traditionell wächsern bis gemüsig. Die eigens fürs TV-Publikum arrangierten Ballett-Einlagen: verzichtbar. Kurzum: the same procedure as every year. Doch was ist das? Ein leiser Schreck jagt die Kameraführung. Da sitzen doch tatsächlich zwei weibliche Wesen mit auf dem Podium, eines am hintersten Pult der Celli, das andere an der Harfe. Immer wieder, Walzer für Walzer, Polka für Polka, saugt sich die Kamera an den beiden Damen fest. Eine Fata Morgana? Ein Scherz? Oder doch bloß: Substitute?

Die Zeiten, da bei den Wiener Philharmonikern ein striktes Frauen-Verbot herrschte, sind, wir erinnern uns, noch nicht lange vorbei. Und auch als das Verbot Mitte der Neunzigerjahre auf massiven öffentlichen Druck hin gelockert wurde, hieß das zunächst wenig: Entweder die Musikerinnen verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Graben der Wiener Staatsoper, oder aber von der Harfenistin wurden im Fernsehen sicherheitshalber nur die Hände gezeigt. Mit derlei misogynen Mätzchen räumt das Neue Jahr nun auf - und redet nicht groß drüber. Wahre Revolutionen sind immer subversiv. Und das ist die gute Nachricht. Die weniger gute Nachricht ist, dass es statistisch gesehen 961 weitere Jahre dauern wird, bis eine Frau das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker auch einmal wird dirigieren dürfen.

Das heißt: So etwas rechnet ja niemand ernsthaft aus, die Zahl stammt aus der Wirtschaft. 961 Jahre werden wir demnach noch brauchen, bis die Gleichberechtigung der Frau vollzogen ist – immer vorausgesetzt, das angeschlagene (Schnecken-)Tempo bleibt konstant. Was klassische Musik mit Wirtschaft zu tun hat? Mehr als man denkt. Bekleiden Frauen in Deutschland derzeit 3,5 Prozent aller harten Führungspositionen, so entspricht dies ziemlich genau dem aktuellen Prozentsatz von Dirigentinnen in leitenden Positionen.

Von den 76 amtierenden deutschen Generalmusikdirektoren nämlich sind derzeit drei weiblichen Geschlechts: Romely Pfund in Solingen, Karen Kamensek in Freiburg und Catherine Rückwardt in Mainz. Im Herbst 2005 wird sich Simone Young als Chefin der Hamburgischen Staatsoper dazu gesellen. An der Quote ändert das wenig. Und am Unbehagen – im feministischen wie im chauvinistischen Lager – auch nicht. Dirigenten seien nun einmal die Inkarnation der Macht in den Augen der Mächtigen, hat schon Norman Lebrecht in seinem Klassiker „Der Mythos vom Maestro“ bemerkt. Mit anderen Worten: Politik und Wirtschaft funktionieren in unserer Gesellschaft genau so wie Musik von Mozart oder Beethoven. Ein einzelner Mensch steht auf einer Kiste, hält ein Stöckchen in der Hand, liest im „Gesetzbuch“, der Partitur – und gibt den Ton an. Elias Canettis „Masse und Macht“ übrigens brachte diesen ungeheuerlichen Vorgang früh auf den Begriff. Allein, eine Maestra kommt darin nicht vor, und das ist klar, denn, so Elke Mascha Blankenburg in ihrem vor Jahresfrist erschienenen, vorzüglich recherchierten Buch, „dirigierende Frauen stellen bis heute die tief verwurzelten Leitbilder der Geschlechter in Frage“ (Dirigentinnen im 20. Jahrhundert, Porträts von Nadia Boulanger bis Simone Young, eva Musik, 350 S., € 29,50).

Macht definiert sich über Repräsentation und Reproduktion. Wo sich aber das Spiegelbild trübt, fängt die Irritation, das Misstrauen an. Ein Chefarzt oder Vorstandsvorsitzender lässt sich nicht gern von einer Pilotin fliegen, ein Bundeskanzler dürfte sich schwerlich in einer Dirigentin wiedererkennen – zumal wenn diese, wie Cornelia von Kerssenbrock, gelegentlich im schulterfreien Abendkleid und mit frisch rasierten Achseln aufs Podium tritt. Eine potenzielle Bundeskanzlerin allerdings hätte das gleiche Problem, was die nächsten knapp 1000 Jahre Männerherrschaft erschreckend plausibel macht.

Nun wären der Statistik noch diverse Peinlichkeiten hinzuzufügen. Ein internationales Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker beispielsweise wurde in seiner gut 120-jährigen Geschichte von exakt vier Dirigentinnen geleitet (zuletzt 1978 von Sylvia Caduff, die für den erkrankten Herbert von Karajan einsprang); und der renommierte Siemensmusikpreis, der im vergangenen Jahr zum 30. Mal verliehen wurde, ging in seinem Titel überhaupt noch nie an eine Frau, sei diese nun Dirigentin, Komponistin, Sängerin oder was auch immer. Doch was soll das Gejammer: Drei oder vier Generalmusikdirektorinnen sind besser als keine, und wenn in naher Zukunft unendlich viel mehr Musikerinnen diesen Beruf und diese Macht handfest anstreben, dann wird es irgendwann auch die erste Überfliegerin, die erste Lichtgestalt geben, den ersten weiblichen Toscanini oder Carlos Kleiber.

Vorerst jedenfalls müssen sich seriöse Arbeiterinnen wie die US-Amerikanerin Marin Alsop (die mit ihrem Bournemouth Symphony Orchestra gerade in Berlin zu Gast war und für 2004 eine Einladung zu den Münchner Philharmonikern besitzt) mit Epitheta wie „höchst beachtlich“ oder „mehr als gelungen“ zufrieden geben. Das Recht der Künstlerin auf Durchschnittlichkeit – zweifellos eine gute, eine gesunde Errungenschaft der Emanzipation.

Die Wirtschaft, apropos, hat dafür den etwas hämischen Begriff des „Glasdecken-Syndroms“ erfunden. Der Gipfel – zum Greifen nah und doch so fern. Doch halt. Wer sagt denn, dass das Weib der Zukunft nichts anderes sein will als eine Toscanini und also: eine Frau im Frack, die Karikatur einer wild gewordenen Pult-Despotin, die mit ihrem Stab den Musikern die Augen aussticht? Das 21. Jahrhundert, so heißt es, sei das Zeitalter der Kommunikation – und somit des Weiblichen schlechthin. Das sieht man, ja ja, nicht nur an Christiansen&Co., das sieht man auch und vor allem daran, dass die jüngeren Taktstockstars, die Rattles, Naganos und Salonens jede Gelegenheit nutzen, um verbal in die Offensive zu gehen: Musikmachen, schwärmen sie, sei Osmose, sei Geben und Nehmen - und Zuhören nobelste, oberste Pflicht.

„Frauen-Dirigenten“ aber (wie Kurt Masur sich ausdrückt) funktionieren noch einmal anders. Und das hat Gründe: Frauen denken erwiesenermaßen vernetzt, Männer in Stufen; Testosteron, das männliche Sexualhormon, löst unter Versuchstieren augenblicklich Rangkämpfe aus, Östrogene hingegen provozieren fürsorgliches Verhalten. Kurz und gut: Frauen machen potenziell anders Musik, nein, sie machen eine andere Musik als ihre männlichen Konkurrenten: eine sozialere, demokratischere, sofern einem das nicht zu kitschig klingt, und sofern die vorwiegend männlichen Partituren und die Grenzen des vorwiegend männlich dominierten Musikbetriebs solches überhaupt gestatten. Und Frauen reden anders über ihre Arbeit. Alsop etwa möchte, was typisch ist, nicht „Macht“ sagen, sondern „Ermächtigung“. Und Catherine Rückwardt betont gern, wie „lieb“ sie die Musiker des Mainzer Staatsorchesters habe.

Beiden aber macht man bedauerlicherweise das schönste Kompliment, wenn man ihnen versichert, sie würden am Pult nicht als Frauen wahrgenommen sondern – ganz wie ihre Herren Kollegen – als geschlechtsneutrale Nur-Künstler. Das ist die Crux zwischen Karriere und Kapital. Oder um ein berühmtes Wort von Horváth zu paraphrasieren: Eigentlich sind wir Frauen ja ganz anders. Wir kommen nur (noch) nicht dazu. „Vergesst den Unterleib!“ aber kann die Devise fürs 21. Jahhrundert nicht lauten. In der Musik noch viel weniger als in Politik und Wirtschaft. Bei Frauen wie bei Männern nicht. Vier Sekunden, so weiß die moderne Psychologie, darf ein Blickkontakt dauern, ohne der Flirtgefahr zu unterliegen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig - damit kommt man nicht weit, nicht einmal bei Johann Strauss.

Christine Lemke-Matwey

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