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Mädchen protestieren gegen die Massenvergewaltigung in Indien.

© dpa

Doku „India’s Daughter“: Bevor sie stirbt, entschuldigt sie sich

Im Dezember 2012 wurde die indische Studentin Jyoti Singh von sechs Männern in einem Bus in Neu Delhi brutal vergewaltigt. Die 23-Jährige starb an ihren schweren Verletzungen. Die Dokumentation "India's Daughter" erzählt ihre Geschichte.

Am Ende hat sie sich auch noch bei ihrer Mutter entschuldigt. Für all die Sorgen, die sie ihr gemacht habe. Das sind die letzten Worte, die die Mutter von ihrer sterbenden Tochter Jyoti Singh hört, wie sie unter Tränen vor der Kamera erzählt.

Singh ist die weltweit bekannt gewordene indische Physiotherapie-Studentin, die im Dezember 2012 starb, nachdem sie von sechs Männern in einem Bus in Neu Delhi vergewaltigt und mit einer Eisenstange so brutal traktiert wurde, dass die Eingeweide aus dem Unterleib traten.

Die Abschiedsepisode zwischen Mutter und Tochter ist einer von vielen Momenten, in denen man beim Ansehen der beeindruckenden, differenzierten, trotzdem umstrittenen und in Indien im März verbotenen Dokumentation „India’s Daughter“ schreien möchte. Vor Schmerz und Mitleid. Aber auch vor Zorn, weil der letzte Satz, den die in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht ihrer 23-jährigen Tochter sehr modern denkende Frau hört, ausgerechnet einer ist, der dem traditionellen Bild einer sittsamen indischen Tochter entspricht.

Jyoti Singh: Symbol für die ignorierte Gewalt gegen Frauen

Eine junge Frau, die sich Ambitionen, Freiheitsdrang und öffentliche Sichtbarkeit absprechen lassen wollte, war Jyoti Singh jedoch gerade nicht. Das belegen die liebevollen, keinerlei Heldinnenverehrung betreibenden Aussagen der Mutter, eines Freundes und des Vaters, der dem in Indien Empörung und heftige Proteste auslösenden Schicksal von Jyoti Singh auch dadurch ein Denkmal setzte, das er ihren Namen öffentlich machte.

Das ist in der indischen Schamkultur für Vergewaltigungsopfer sonst sogar gesetzlich verboten, falls Angehörige nichts Gegenteiliges gestatten. Das Aufgreifen der Namensnennung und angeblich unerlaubt veröffentlichte Interviewpassagen sind zwei von vielen Gründen, weshalb der britische Dokumentarfilm über das Verbrechen, das in Indien zum Symbol für den Umgang mit dem notorisch ignorierten Thema Gewalt gegen Frauen wurde, bis in die Regierung hinein zu Unmut führte. Dort wurde dann im März ein richterliches Fernsehausstrahlungsverbot und ein YouTube-Bann initiiert.

Die Stiftung Cinema for Peace zeigt den Film am Dienstag jetzt erstmals in Deutschland. Regisseurin Leslee Udwin wird bei der Vorführung im Babylon Mitte in Berlin anwesend sein.

Das Bild der Täter: normale indische Männer

Ihr stimmenreicher Film, der sowohl das Verbrechen als auch die Biografien von Tätern und Opfer sowie die gesellschaftlichen Konsequenzen der Tat nachzeichnet, zeigt die Vergewaltiger eben gerade nicht als die Monster, die Jyoti Singhs Vater in ihnen sieht. Sondern als das, was sie sind – normale indische Männer. Was die Massenvergewaltigung, nach der die Studentin und ihr bewusstlos geschlagener Freund beide schwer verletzt aus dem fahrenden Bus geworfen wurden, nicht weniger monströs macht.

Ein Vergewaltiger, der sagt, dass ein anständiges Mädchen abends um neun nichts auf der Straße zu suchen hat. Und dass Mädchen mehr Verantwortung für eine Vergewaltigung tragen als Jungen. Ein Anwalt, der erzählt, dass er seine Tochter mit Benzin übergießen und anzünden würde, sollte er sie je mit einem Jungen erwischen. Solche Sätze sind Konsens unter indischen Männern. Zumindest waren sie es bis zu Jyoti Singhs Tod. Dass ihr Sterben nicht nur Gesetzesverschärfungen zur Folge hatte und die Zahl der Vergewaltigungs-Anzeigen in Indien um 25 Prozent erhöhte, sondern auch einen Bewusstseinswandel bewirkt – das ist die Hoffnung, die „India’s Daughter“ nährt. Fatal, wenn sich eine Regierung ausgerechnet daran stört.

Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Platz, Di 30.6., 19.30 Uhr

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