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Jedes vermisste Kind ist eins zu viel. Der amerikanische Schriftsteller Don Winslow, 61.

© dpa

Don Winslows Thriller „Missing. New York“: Tage des Zorns

Warum Kinder entführt werden: Don Winslow beginnt mit dem Thriller „Missing. New York“ eine Romanreihe mit dem Ermittler Frank Decker.

Er ist schon ein Phänomen, dieser Don Winslow: Als Anfang dieses Jahres sein Roman „Vergeltung“ erschien, da hatte man nach der Lektüre den Eindruck, als würde der 61-jährige amerikanische Schriftsteller sein wahres Ich von der Leine lassen, als wäre das reaktionäre Fach seine eigentliche Spezialität. Keine Rede mehr in diesem Roman von den Schrecken des mexikanischen Drogenkriegs, von „Tagen der Toten“, dem Roman, mit dem Winslow 2010 auch in Deutschland schlagartig bekannt wurde; und auch keine Spur mehr von Winslows Subkultur-Appeal, von den Surfern, Slackern, Dealern und Kiffern, die andere seiner Bücher bevölkern. In „Vergeltung“ geht es um den Krieg gegen den Terror, moderne Kriegsführung und die Technik und Handhabung neuer Waffensysteme, um Rambos, Elitesoldaten, echte Männer, böse Islamisten und um nicht weniger böse, weil reiche Scheichs.

Doch anstatt hier anzuschließen, hat Winslow für seinen neuesten Roman „Missing New York“ (der hierzulande erstmals nicht mehr bei Suhrkamp, sondern bei Droemer erscheint) ein weiteres Mal das Fach gewechselt und sich einen neuen Ermittler zugelegt, den Detective Sergeant Frank Decker. Dieser verrichtet zunächst in Lincoln, Nebraska, seinen Dienst und soll eine verschwundene Siebenjährige namens Hailey wiederfinden.

Nachdem Winslow schon angekündigt hatte, eine ganze Decker-Romanreihe zu schreiben, lag der Verdacht nahe, „Missing New York“ könnte als Ouvertüre zu sehr auf den Ermittler zugeschnitten sein. Ist der Roman aber glücklicherweise nicht. Es geht gleich in medias res, um die Polizeiarbeit, wenn ein Kind verschwindet. Dabei ähneln die ersten 100 Seiten dieses Romans mehr einer Doku-Fiktion als einem Thriller. Kapitel für Kapitel beschreibt Winslow Vorgehen und Erfahrungswerte der Polizei in einem solchen Fall: „Fast fünfzig Prozent der Kinder, die von Entführern getötet werden, sterben in der ersten Stunde nach ihrem Verschwinden“ heißt es da.

Oder: „Die meisten Kindesentführer wohnen in der Nähe ihrer Opfer“. Oder: „Beim Verdacht einer Entführung teilt man seine Leute grob in drei Gruppen ein – Kommando , Einsatzkräfte und Hilfskräfte“. Man sehnt sich da zuweilen nach Informationen über Decker, über seine Macken, sein Privatleben und so weiter. Damit geht Winslow jedoch sparsam um. Das Decker-Porträt verteilt er geschickt auf die gesamte Länge seines Romans (Irakkriegsveteran, schwer kriselnde Ehe, Gutmensch mit einem Zug ins Besessene) und konzentriert sich lieber auf seine Geschichte, die nach dem etwas länglichen Intro auch Tempo aufnimmt: Ein weiteres Mädchen wird entführt und dann tot aufgefunden, ein Verdächtiger gesteht, will aber mit dem Fall des ersten vermissten Mädchen nichts zu tun haben. Hailey bleibt verschwunden, der Fall wird zu den Akten gelegt.

"Missing. New York" ist im Vergleich zu "Kings Of Cool" und "Zeit des Zorns" ein konventioneller Roman

Nur Decker findet sich damit nicht ab. Er quittiert seinen Dienst, genauso seine Ehe und reist kreuz und quer durch Amerika, auf der Suche nach Hailey. Spätestens hier ist man als Leser dabei, und auch mit den Gedanken nicht zuletzt bei Songs wie Soul Asylums „Runaway Train“ oder dem Fall Maddie, der bis heute nicht geklärt ist. Frank Decker landet schließlich in New York City, ein Modefotograf und ein seltsamerweise der siebenjährigen Hailey wie aus dem Gesicht geschnitten ähnliches Model erscheinen extrem verdächtig. Dass die kleine Hailey noch lebt und wo sie sich aufhält, das erfährt man immer wieder durch kurze, kursiv gesetzte Kapitel. Darin sinniert das Kind darüber, wie es seiner Identität beraubt werden soll und dass in jedem Fall sein Stoffpferdchen Magic über seine Ursprungsidentität wacht. Diese Passagen sind natürlich arg konventionell (in der Regel wird auf diese Weise gerade in skandinavischen Krimis die Perspektive psychisch kranker Serientäter eingenommen), so wie überhaupt Winslows Handlungsführung, die sonstige Form mit den vielen kurzen Kapiteln und auch der Stil seines Romans reichlich konventionell und frei von Überraschungen sind.

Letzteres aber ist ein großer Pluspunkt, gerade wenn man an Winslow-Romane wie „Kings Of Cool“ oder „Zeit des Zorns“ denkt. In denen stehen haufenweise aufs Äußerste verknappte Sätze, und es braucht so seine Zeit und Mühen, bis Fall, Geschichte und Figuren offen daliegen. Statt Ellipsenfeuerwerk, vielen kurzen Sätzen und Slang gibt es in „Missing New York“ ordentlich lange Sätze, die immer nah an Frank Decker und seiner Gedankenwelt dran sind. Und zu Kindsentführung, Kindsmissbrauch und Kinderprostitution gibt es sowieso keine zwei Meinungen; da mag es sogar angehen, wenn ein Kollege von Decker sagt, als er diesem einen New Yorker Kinderstrich zeigt, mitsamt Zuhältern und Kunden: „Hier möchte man Dirty Harry spielen und einfach mit dem Maschinengewehr durchgehen.“

Man muss im Übrigen kein Prophet sein, um sehen zu können, dass Winslow Deckers Irakkriegserlebnisse noch ausarbeitet – vor dem Hintergrund seines bisherigen Romanwerks und der Vielfalt an Stoffen kann man sich sicher sein, dass Winslow nicht noch einmal einen Roman wie „Vergeltung“ schreiben wird.

Don Winslow: Missing. New York. Roman. Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Verlag Droemer Knaur, München 2014. 395 Seiten, 14,99 €.

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