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Victoria Schulz spielt Dora.

© Alamode

"Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern" im Kino: Wessen Wille ist frei?

Darf eine geistig behinderte 18-Jährige selbst entscheiden, wie und mit wem sie Sex hat? Der Film „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ mit Lars Eidinger befragt Moral und Doppelmoral.

Einmal, in der tiefen Mitte des Films, sind Dora (Victoria Schulz) und Peter (Lars Eidinger) ein unbeschwert glückliches Paar. Der sich fies cool gebende, seelisch schwer defekte Peter fährt mit der geistig behinderten, lebenshungrigen und liebeslustigen Dora im Cabrio in den Wald. Sie hören „Verschwende Deine Jugend“ von DAF, richtig schön laut dröhnt die Musik. Auf einer Lichtung springen die zwei aus dem Auto und tanzen Pogo, ein kurzes, wildes, einverständiges Schattenboxen. Und die Kamera schaut, ausnahmsweise fern, aus einem Herrgottsaugenwinkel zu.

Sonst ist die Welt eng um die zwei und vor allem um Dora. In Großaufnahmen nimmt die subjektive Kamera die müde gewordenen Helfergesichter in den Blick, von den professionellen Ruhigstellern bis zur lebenserschöpften Mutter, allesamt Reinreder und Besserwisser. Oder Peter sieht, nachmittags in einem muffig zugestellten Hotelzimmer, die ihre Sexualität unbekümmert feiernde Dora auf sich herumturnen, er betrachtet die Nackte staunenden oder bösen Auges, manchmal hebt sich der Unterschied vor lauter Lust auf. Ja, diese zwei darf es gar nicht geben als Paar, und dass Dora auch noch schwanger wird, noch viel weniger.

Expeditionen in moralisches Grenzland

Die 18-jährige Dora, die beim Gemüsemarktstand mithelfen darf, will diesen älteren Zufallsbekannten namens Peter. Sie stellt ihm nach mit einem Granatapfel, leuchtende Eva mit der Seele einer Fünfjährigen, und in einer Bahnhofstoilette kommt es zum ersten Sex. Ein großer Schrecken, aber eine Vergewaltigung? Was, wenn Dora das „Scheidenpimmelchen“ schön findet und vor Polizistinnen und Sozialarbeiterinnen in schlichten Worten von ihren sexuellen Erlebnissen mit Peter schwärmt? Vor dem Hintergrund der aktuellen Missbrauchsdebatten lockt dieser Film in moralisches Grenzland, indem er Dora jene Freiheit ausleben lässt, die ihr die eigenen Eltern zugestehen wollen und dann auch wieder nicht. Und er reißt ins Offene, weil er bewusst darauf verzichtet, ein letztlich erhebendes Geschichtlein zu erzählen. Lieber lässt er sein Publikum mit dem Schmerz der Figuren mutig allein.

Auch von den „sexuellen Neurosen unserer Eltern“, wie sie im Titel stehen, erzählt die Schweizerin Stina Werenfels in ihrem zweiten Langspielfilm ausdrücklich nicht. Auf Lukas Bärfuss’ gleichnamigem Theaterstück von 2003 gründet das Gerüst dieser Familien- und Gesellschaftsaufstellung, in der immer die anderen am besten zu wissen meinen, wie der freie – vor allem sexuelle – Wille der behinderten Dora einzuhegen sei. Ihr gilt alle Sym- und Empathie, und die junge Schauspielerin Victoria Schulz erfindet sich hierfür in kluger Unerschrockenheit eine fulminante Performance. Doras Vitalität schreddert jeden noch so verschwiemelten oder bloß gut gemeinten Widerstand, und sogar der lausige Profiteur Peter, den Lars Eidinger in stets brandgefährlicher Zurückhaltung gibt, erfährt zum eigenen Unwohlsein augenblicksweise eine Art Gefühl, das man bei großherziger Betrachtung Liebe nennen könnte.

Und die Mutter (anrührend: Jenny Schily), die mit ihrem Mann via Reproduktionsmedizin um ein spätes zweites, endlich „gesundes“ Kind kämpft – und durch das verwegene Absetzen der dumpfdämpfenden Psychopharmaka Doras sexuelles Erwachen erst ausgelöst hat? Sie ist in diesem Fruchtbarkeits- und Generationenclinch die Verliererin, auf die sich die Aufmerksamkeit der Regisseurin zunehmend fokussiert. Als Trost lässt der Film ihr einen undeutlich zwischen Rausch und Realität oszillierenden Traum – und ein unerhörtes Bild, auf dem Lukas Strebels Kamera in endlich diskreter mittlerer Nähe ruht. Was für ein Frieden mitten in zerfetztem Geschehen, kaum auszuhalten.

Hier den Trailer zum Film ansehen

Im Capitol, Delphi, Filmtheater am Friedrichshain, Hackesche Höfe, International, Kant-Kino, Yorck

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