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Kultur: "Dossier Serbien": Kulturelle Dekontamination

Über Nacht, im Wortsinn über Nacht, hatte sich die Situation radikal umgekrempelt, bei der Belgrader "Oktoberrevolution" in der Nacht vom 5. auf den 6.

Von Caroline Fetscher

Über Nacht, im Wortsinn über Nacht, hatte sich die Situation radikal umgekrempelt, bei der Belgrader "Oktoberrevolution" in der Nacht vom 5. auf den 6. Tag des vergangenen Monats. Alles war möglich geworden. Eine Eisscholle war zerbrochen und schmolz in Blitzgeschwindigkeit. Die politische Aufbruchsstimmung hat dazu beigetragen, dass gleich drei deutsche Institutionen alle Bürokratie über Bord warfen und in nur vier Wochen eine Ausstellung kritischer serbischer Künstler möglich machten - eine Hommage an den Widerstand. Die Berliner Akademie der Künste, die Heinrich Böll Stiftung und das Auswärtige Amt zogen an einem Strang, um dem "Zentrum für kulturelle Dekontamination" in Belgrad den Raum für "Dossier Serbien - Einschätzung der Wirklichkeit der 90er Jahre" zur Verfügung zu stellen.

Explosiv, auch im Wortsinn, sind viele der Exponate, die zwischen Kunstwerk und Pamphlet, Wortwitz und Wutschrei oszillieren. Alle Genres sind vertreten, Malerei, Fotografie, Videokunst, Comics. Coupons, angeordnet wie Lebensmittelmärkchen, lassen sich einlösen gegen Zustände des Überlebens: "Angst" steht darauf, auf serbisch, albanisch und englisch. Oder: "Tabu", "Macht", "Orgasmus", "Entspannung". Alles war nur gegen Märkchen zu haben. Rationiert waren die Lebensmittel, und rationalisiert war das absurde Leben in dem zehn Jahre währenden Krisenzustand, den das Regime Milosevic mit seiner Bevölkerung aufrecht erhielt. Changierend zwischen Hammer-Sichel-Symbol und Hakenkreuz schweben schwarze Zeichen über Belgrads Straßen, auf dem großformatigen Gemälde "IBM-Slavija" von Mrdjan Bajic. Und ein nicht signiertes Kunstwerk, irgendwo zwischen Readymade und Installation, fungiert als Zeichen für das große Warten in dem Jahrzehnt der Despotie: etwa zwanzig kleine Hocker, zusammengezimmert aus Brettchen, "beschlagnahmten" die Künstler im Gebäude der deutschen Botschaft. Wer dort auf ein Visum hoffte, brachte sich so einen Hocker mit.

"Die Ausstellung ist keine reine Kunstausstellung", schreibt Matthias Flügge im Vorwort zum Katalog, "sie zeigt Artefakte eines Ereignisses der Möglichkeit von Freiheit." Kunst kann, fügt er hinzu, "keine demokratischen Strukturen schaffen. Sie kann nur die Offenheit einer Situation befördern, die zu deren Entstehung nötig ist."

Sicher, in Serbien sind noch fast alle Probleme ungelöst. Aber wer, wie die widerständigen Künstler, so lange überwintert hat, kann mit dem Frühling etwas anfangen. "Wir sind keine Romanhelden", sagt die junge Co-Kuratorin Ana Miljanic, Dramatikerin aus Belgrad. "Wir verstehen Ausstellungen wie diese als Teil eines Heilungsprozesses." Plötzlich, im Gespräch mit den illusionslos sarkastischen jungen Künstlern, gibt es einen Anflug des Jugoslawien der sechziger und siebziger Jahre, als es für Intellekt und Kunst einen im Sozialismus ungewöhnlichen Freiraum gab, mitten auf dem Dritten Weg. Jetzt geht es darum, den vierten zu suchen. Vielleicht zwischen den Bronzetrümmern der Tito-Büsten, die Dragan Srdic aufgebahrt hat. Was wird neu? "Vor allem Frauen repräsentieren das andere Serbien", sagt Olga Zoller von der Böll-Stiftung. Der Feminismus der Belgraderinnen vom "Zentrum für kulturelle Dekontamination" besteht darin, dass sie das selbstverständlich finden.

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