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Kultur: Dreimal Gold

Michael Hanekes „Amour“ und seine Hauptdarsteller siegen beim Filmfest in Cannes – und auch die anderen Preise sind gerecht.

Was für ein Happy End! Unter dem Jubel des Publikums stehen die drei auf der Bühne, deren gemeinsame Arbeit alles andere bei diesem 65. Festival von Cannes mit Abstand hinter sich gelassen hat: Michael Haneke und die Hauptdarsteller seines Kammerspiels „Liebe“, Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant. Gemeinsam danken sie für die Goldene Palme, die in der Regel der Regisseur allein entgegennimmt. Es ist ein Fest, wie es selbst dieses Feste weidlich gewohnte Festival selten erlebt, ein historischer Augenblick des Kinos, den jeder Zuschauer von „Amour“ schon bei der Premiere vor einer Woche erfahren hat und der nun alle noch einmal vereint. Ovationen!

Bereits Jurypräsident Nanni Moretti hatte das Trio ausdrücklich auf die Bühne gebeten, indem er den „fundamentalen Beitrag“ der Hauptdarsteller hervorhob. Und nun sagt auch Haneke: „Es ist ihr Film“ – und dankt außerdem seiner Frau, die „mich seit 30 Jahren erträgt“ und mit der ihn ein ähnliches Versprechen verbinde, wie es die beiden von ihm erfundenen Figuren aneinander und miteinander erfüllen. Die 85-jährige Emmanuelle Riva erinnert an die „leidenschaftliche Arbeit“ während der zwei Drehmonate, und der 81-jährige Jean-Louis Trintignant, großer Prévert-Rezitator, schließt die Zeremonie mit einem Kürzestgedicht seines Lieblingsdichters: „Und wenn wir versuchten, glücklich zu sein – und sei es nur, um ein Beispiel zu geben?“

Dass nun die Inkarnation jenes Paares, das einen Weg zum Tod in Liebe sucht, mit seinem genialen Geschichtenerfinder auf der Bühne steht, geschieht allerdings fast am strengen Reglement vorbei. Denn die Cannes-Statuten verbieten es, dem Gewinner der Goldenen Palme noch einen weiteren Preis zuzusprechen – und erst recht zwei weitere etwa den Hauptdarstellern. Wie aber Haneke ohne Riva und Trintignant, und wie erst recht die beiden ohne Haneke? Nun also so. Alles andere wäre ein schlechter, nein: ein dummer Witz gewesen. Immerhin haben Haneke und die Seinen damit eine Regel überlistet, die nach dem Festival 2001 ausgerechnet seinetwegen eingeführt worden war: keine Kumulation von Preisen mehr wie bei der „Klavierspielerin“, wo der Film mit dem Großen Preis der Jury – sozusagen der Silberpalme – und Preisen für die Hauptdarsteller Isabelle Huppert und Benoît Magimel insgesamt dreimal ausgezeichnet worden war. Die kuriose Ausnahme seitdem: Wenn ein Film den Preis der Jury (dito: Bronze) oder den Drehbuchpreis gewinnt, dann dürfen auch die Darsteller mitgeehrt werden. Prompt hat die Jury nun den Rumänen Cristian Mungiu mit dem Drehbuchpreis beglückt – und Cristina Flutur und Cosmina Stratan dazu, die Hauptdarstellerinnen seines Klosterdramas „Dupa Dealuri“ (Jenseits der Hügel). Noch eine Ovation!

Wenn die Jury die zwei stärksten Wettbewerbsbeiträge eines Festivals so großzügig bedenkt und über allerhand mit bloßen Oberflächenreizen prunkendes Aufregerzeug souverän hinweggeht – wie kann man da anders als loben, loben, loben? Ein bisschen mäkeln aber geht dann doch. Nicht etwa darüber, dass da zwei Palmen-Gewinner von 2009 (Haneke) und 2007 (Mungiu) noch einmal bedacht wurden – und auch nicht über Bronze für Ken Loach (Goldene Palme 2006). Aber Silber für Matteo Garrones „Reality“ und seine einfältige Abrechnung mit dem „Big Brother“-Format? Okay, der Jurypräsident ist ebenfalls Italiener. Und der Schauspielerpreis für Mads Mikkelsen? Nun, auch in Thomas Vinterbergs „Jagten“ sieht Mikkelsen wieder verdammt gut aus. Und der Regiepreis für Carlos Reygadas’ hermetische Etüde „Post tenebras lux“? Na, was passt besser zu einem schwer verständlichen Film als eine schwer verständliche Entscheidung?

Doch all das verblasst vor der großen Entscheidung. Sogar der Einwand, dass „Amour“ den insgesamt mittleren Wettbewerbsbeiträgen deutlich überlegen und ohnehin unschlagbar war. Das Konkurrentenfeld dieses Jahrgangs, in dem sich gefällige amerikanische Produktionen ebenso tummelten wie eher absonderliche Beiträge aus Fernost, hätte stärker sein dürfen – nicht nur um dieses Argument zu entkräften. So unerhört spielend, wie „Amour“ in Erinnerung bleibt.

siehe auch Meinung, Seite 8

Jan Schulz–Ojala

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