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Krimineller Posterboy. Der 18-jährige Chief Keef wurde wegen Drogenhandels verurteilt und hat einen millionenschweren Plattenvertrag.

©  Jeff Forney

Drill Music: Bang, bang, bang, bang

Drill Music aus Chicago ist der neue Gangsta Rap: Ghetto Kids feiern damit ihren gewalttätigen Alltag. Der 18-jährige Chief Keef wurde schon von Kanye West remixt.

Der Laden in Chicago war gut gefüllt, die Party im Gange, als nach Mitternacht ein paar Feiernde aneinander gerieten. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Schüsse fielen. Am Ende gab es ein Todesopfer und drei Verletzte. Die fatale Schießerei in einem Club in der South Side von Chicago war Ende Januar der Lokalpresse nur eine kurze Meldung wert. Konflikte mit Kugeln zu regeln ist südlich des Chicago River an der Tagesordnung. Erst im September erklärte das FBI die „Windy City“ wieder zur Mordhauptstadt der USA: Mit 500 Morden im Jahr 2012 übertraf man sogar New York, obwohl dort dreimal so viele Menschen leben.

Die Bilder zu den Statistiken liefern die Rapper aus „Chiraq“, wie sie ihre Heimatstadt nennen. Das Waffenarsenal, das sie in ihren Videoclips vorführen, würde tatsächlich für einen Einsatz im Irak reichen. Handfeuerwaffen, Halbautomatische, Maschinenpistolen – je großkalibriger, desto besser. Ist gerade keine Knarre zur Hand, wird mit dem Zeigefinger in die Kamera geschossen. Dazu spucken sie aggressive Reime aus.

Drill Music nennt sich dieses neue, musikalisch bedrohliche und in der Inszenierung denkbar gewalttätige Rap-Genre. Über dunkel dräuenden Synthie-Flächen berichten meist noch minderjährige Rapper wie Chief Keef, Lil Durk, Fredo Santana oder Lil Reese über alltägliche Gewalt und Verbrechen. Sie erzählen von einem Leben in Vierteln, aus denen sich nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch alle Zukunftsperspektiven verabschiedet haben. Während gesampelte Pistolenschüsse den Beat strukturieren, wird der Drogenhandel als ehrbares Gewerbe und einzige Aufstiegsmöglichkeit glorifiziert. Die Reime sind simpel, der Flow nicht elegant, aber drängend, oft muss ein einziges, lautmalerisches Wort genügen: bang!

Trotz ihrer technischen Limitationen und ästhetischen Einfältigkeit sind die Rapper aus den Armenvierteln Chicagos zum heißen Scheiß geworden. Zuerst nur auf Facebook und Youtube, wo Chief Keefs „I Don’t Like“ mehr als 25 Millionen Mal geklickt wurde, später dann in den traditionellen Medien. Die Musikindustrie reagierte schnell. Der Deal von Chief Keef, dem Posterboy der Szene, soll zwischen drei und sechs Millionen Dollar schwer sein. Sein „I Don’t Like“ wurde von Kanye West remixt und mit prominenten Gästen wie Jadakiss aufgemotzt. Der erst 14-jährige Lil Mouse wurde von Rap-Star Lil Wayne unter die Fittiche genommen Und das Label von Lil Durk will ihn zu einer „Mischung aus 50 Cent und Justin Bieber“ aufbauen. Mehr als ein Dutzend Rapper sind mittlerweile von großen Plattenfirmen verpflichtet worden, darunter auch Frauen wie Katie Got Bandz oder Sasha Go Hard, die ihren männlichen Kollegen an Wucht und Wut nicht nachstehen.

Ob Hip-Hop-Fachmagazin oder Sensationsblatt, nahezu alle US-Medien haben mittlerweile ihre Reporter nach Chicago entsandt. Die sind vor allem fasziniert vom authentischen Elend und inszenieren die Stadt, von der aus Barack Obama seinen Weg ins Weiße Haus antrat, als Kriegsgebiet. Sie zeigen Bilder von Müllbergen vor Abbruchhäusern, von dunklen Straßen und noch dunkleren Geschäften, von schwer bewaffneten Vermummten. Und sie bringen Geschichten mit wie die des Rappers Pacman, der den Begriff Drill Music geprägt haben soll, aber 2010 ermordet wurde, bevor er seinen Ruhm genießen konnte.

Es ist Reality-TV für den Rest des Landes. Gruselgeschichten aus Chiraq, für die die so kriminellen wie kreativen Protagonisten fleißig Stoff liefern. Nahezu alle haben bereits Strafen abgesessen, sind gerade angeklagt oder auf Bewährung wegen illegalen Waffenbesitzes, Diebstahls oder Drogen. Lil Reese wurde im vergangenen Jahr schlafend in einem gestohlenen BMW verhaftet und mit vier Gramm Marihuana erwischt. Lil Durk landete wegen illegalen Waffenbesitzes im Knast. Chief Keef, mittlerweile 18 Jahre alt, wurde wegen Drogenhandels zu Hausarrest verurteilt, war in eine Schießerei verwickelt, hat einen Polizisten mit einer Waffe bedroht und Verfahren wegen unterlassener Unterhaltszahlungen für zwei Kinder am Hals. Kürzlich verbrachte Keith Cozart, wie Keef eigentlich heißt, drei Monate in einer Entzugsklinik, in der sonst Britney Spears und Lindsay Lohan versuchen wieder sauber zu werden. Die 160 000-Dollar-Rechnung übernahm sein Label Def Jam.

Die Wohnungspolitik von Chicago verteilte die Gangs in der ganzen Stadt

Krimineller Posterboy. Der 18-jährige Chief Keef wurde wegen Drogenhandels verurteilt und hat einen millionenschweren Plattenvertrag.
Krimineller Posterboy. Der 18-jährige Chief Keef wurde wegen Drogenhandels verurteilt und hat einen millionenschweren Plattenvertrag.

©  Jeff Forney

All das kann die Plattenfirmen nicht schrecken. Im Gegenteil. So zynisch es sein mag: Die Geschichte von den noch nicht einmal volljährigen Schwerkriminellen, die ein Wutgeheul aus einem Kriegsgebiet schicken, das mitten in der ersten Welt liegt, ist einfach zu gut. Sie erinnert natürlich auch an den Gangsta Rap, der Ende der achtziger Jahre in den Slums von Los Angeles entstanden ist. Tatsächlich sind sowohl Themen als auch soziale Hintergründe vergleichbar, reflektieren die Reime doch die Lebensrealität in den afro-amerikanischen Ghettos. Neu an Drill ist das Alter der Protagonisten und ihr Nihilismus: So jung die Rapper sind, so hoffnungslos wirken sie. So sehr sie ihren künftigen Reichtum beschwören, so deutlich wird es, dass sie doch eher mit ihrem nahen Tod rechnen.

Der ist schließlich Realität. 2011 wurden in Chicago 319 Jugendliche erschossen. Alle Rapper gehören zu den nach Schätzungen mehr als 100 000 Gang-Mitgliedern in Chicago. In den Videos präsentieren sie ihre Waffen und rauchen Joints. Elektronische Fußfesseln werden vorgezeigt wie Orden, mysteriöse Handzeichen künden von der Gang-Mitgliedschaft. Geldbündel werden gezählt und verschwinden in dick wattierten Anoraks. Gedreht wird auf den Straßen der South Side oder in den Wohnungen der Protagonisten, die sich auf räudigen Sofas vor kahlen Wänden räkeln oder – so in Chief Keefs Clip zu „I Don’t Like“ – mit nacktem Oberkörper ekstatische Tänze aufführen.

Zentral in den Videoclips sind auch die Straßenschilder, die immer wieder eingefangen werden. Sie signalisieren die Herkunft der Rapper, markieren das Revier ihrer Gangs. Die Gangs kontrollieren mitunter nur einen einzigen Block oder eine Kreuzung. Sie sind oft Untereinheiten größerer, bisweilen überregional organisierter Gangsterbanden wie den Black Disciples oder Gangster Disciples. Mitverantwortlich für die Verteilung der Gangs in der Stadt ist die Wohnungsbaupolitik in Chicago: Alte Sozialwohnungsgebiete wurden abgerissen oder renoviert, die Bewohner umgesiedelt – in der Hoffnung, dadurch ihre Lebensumstände zu verbessern. Erreicht wurde das Gegenteil, weil bis dahin gut organisierte Banden, die ganze Viertel beherrschten, über die Stadt verteilt wurden. Die Folge: Konkurrierende Gangs teilten sich plötzlich denselben Block, die Frontverläufe wurden vollkommen unübersichtlich, die Auseinandersetzungen über den Drogenmarkt eskalierten.

So wie einst der Gangsta Rap die vom Crack befeuerten Bandenkriege zwischen Crips und Bloods in South Central Los Angeles begleitete, ist Drill Music jetzt der Soundtrack der neuen Konflikte. Und ganz wie im Gangsta Rap kann auch in der Drill Music die Konkurrenz zwischen den Rappern tödlich enden. In den Neunzigern starben The Notorious B.I.G. und Tupac Shakur, ihre Mörder wurden nie gefunden. 2013 wurde der 17-jährige L’A Capone erschossen, als er aus einem Tonstudio kam. Der 16-jährige Lil JoJo war mit dem Fahrrad unterwegs, als seine Mörder aus einem vorbeifahrenden Auto feuerten. Waren sie nur zufällige Opfer von Drive-by-Shootings? Opfer lokaler Gang-Konflikte? Oder hat ihr Tod etwas mit ihren Raps zu tun? Niemand kann das sagen. Sicher ist nur, dass die Überlebenden weiter aus dem Kriegsgebiet senden.

Thomas Winkler

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