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Kultur: Du musst hingehen, wo der Schmerz ist

Ulrich Mühe und Susanne Lothar sind Spezialisten für Extremzustände. Jetzt spielen sie „Drei Mal Leben“ in Berlin

Von Kerstin Decker

Theatertreffen 2001. „Die Akademiiiii!“ Der „verdammte Milchstraßenforscher“ aus „Drei Mal Leben“ stopft das Wort dem eitlen Wissenschaftsmanager in den Mund, in mindestens drei Tonlagen auf einmal, endlos zerdehnt, seine ganze soeben zertretene Existenz in das eine Wort gepresst. Regisseur Luc Bondy schaut aus der siebten Reihe den ZDF-Aufnahmeleiter entschuldigend an: „Ist der Mühe jetzt wahnsinnig geworden?" Am Abend spricht Ulrich Mühe, der Hauptdarsteller, dann wieder ein bürgerlich-gedämpftes „Akademie", ganz ohne Hysterie.

Schließlich ist so eine Akademie eine bürgerlich gedämpfte Einrichtung, auch wenn man nicht reingelassen wird wie Mühes Milchstraßenforscher. Und ein Schauspieler ist ein bürgerlich gedämpftes Mitglied der Lebenswelt, jedenfalls am Tage. Und bürgerlich-gedämpfter als in Charlottenburg wird es in Berlin ohnehin nicht mehr. Jetzt spielen Ulrich Mühe und Susanne Lothar die Wiener Burgtheater-Inszenierung „Drei Mal Leben“ auch in Berlin, diese Nahaufnahme eines Wissenschaftler-Abendessens mit Gattinnen und Kind. Drei Mal ist es dieselbe Mahlzeit, drei Mal erfährt der Milchstraßenforscher, dass sein Lebenswerk-Artikel „On the flatness of galaxies halos“ schon geschrieben worden ist - von einem anderen. Drei Mal endet der Abend anders. Spielerisch leicht ist das, und so ungewohnt bekömmlich die Tragik darin, jedenfalls an Mühe-Lothar-Maßstäben gemessen. Ist es gar Boulevard, bürgerlich-gedämpftes Rückversicherungs-Theater? Sehr schwer, diesen Verdacht in Gegenwart des Berliner Theaterextremistenehepaares Ulrich Mühe und Susanne Lothar auszusprechen. Sie sind Innenwelten-Gletscherkundler, Experten für Fragen der Form und wissen, bis zu welchem Schritt man zu weit gehen kann.

Expedition nach Grimma

„Boulevard.“ Susanne Lothar, die Frau, die einmal Zadeks „Lulu“ war, hat es selbst gesagt. Sie schickt einen leicht strafenden Blick hinüber zu ihrem Mann, der soeben etwas Anerkennendes über die „französische Leichtigkeit“ in Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ geäußert hatte, die, das mag schon sein, nicht unbegrenzt haltbar sei. Wieviele unserer Hier-und-Heute-Stücke wird man in hundert Jahren noch kennen, aber trotzdem. Lothar mag das „Trotzdem“ im Satz ihres Mannes nicht. Würden wir „Boulevard“ etwa abfällig meinen? Sie kennt da einen Chirurgen, der muss jeden Tag morgens um sechs operieren. Soll der sich am Abend eine dieser Theater-Vivisektionen vor Publikum anschauen, drei Stunden am Stück? Und dann schläft er vielleicht noch ein. Und dann geht er nie wieder ins Theater.

Außerdem machen Chirurgen genug Vivisektionen tagsüber, darf man sie da noch abends solchen Operationen am Lebendigen aussetzen? „Ich jedenfalls nehme den Chirurgen ernst“, beschließt Susanne Lothar, Schutzheilige aller gestressten Berufsgruppen, und schaut ihren Mann auffordernd an. Ulrich Mühe nickt. Natürlich spielt er auch für Ärzte. Hat er schon immer gemacht. Auch früher am Deutschen Theater, „Mein Freund Bunbury“ von Oscar Wilde mit Michael Gwisdek und solche Sachen. Nur war es dann nicht doch etwas anderes, eben nicht mehr - Boulevard? Mühe kommt gerade aus Grimma, seiner vor ein paar Tagen noch gänzlich überfluteten Heimatstadt in Sachsen. Es ist nicht mehr viel von dem Grimma zu sehen, das er kannte. Dabei hat er im Juni noch einem Dokumentarfilm fürs Fernsehen über Grimma gemacht. „Im Tale, wo die Mulde fließt, da steht ein Städtlein fein.“ Ist auch Boulevard, irgendwie. Nun ist der Film fertig, und das Lied stimmt nicht mehr.

Zadeks „Lulu“ damals in Hamburg, überlegt Susanne Lothar inzwischen, war doch auch ganz boulevardig gedacht. Sie registriert zufrieden die kurze Fassungslosigkeit am Tisch. Lulu, die Frau, die überall, wo sie hintritt, Männerleichen hinterlässt. Aber Lothar hat ja recht, was sonst wäre Boulevard, zumindest dem Stoff nach? Man muss, schlagen wir vor, den Begriff Boulevard ganz neu definieren! Vor allem aber, weicht Mühe aus, denn das Definieren ist doch eher was für Trockenschwimmer, vor allem wollten wir mal mit Luc Bondy spielen, als wir „Drei Mal Leben“ machten. Bondy hat uns beide gefragt und wir haben ja gesagt. Das heißt, verbessert sich Mühe, er habe einzeln gefragt und man habe einzeln ja gesagt. Darauf besteht das Ehepaar Mühe-Lothar. Ein Ehepaar ist schließlich kein Entscheidungsgremium. Jeder entscheidet für sich. Ohne Rücksicht auf den anderen. Es klingt, als sagte irgendwann einer zum anderen: So, so, du spielst also auch mit! Und wir dachten, Mühe und Lothar haben damals zu Sarah Kanes Hamburger Vivisektionsalptraum „Gesäubert“ auch deshalb ja gesagt, weil sie das zusammen machen konnten. Bei Extremtouren ist doch wichtig zu wissen, wer noch mitkommt. Schon, erklärt Mühe, aber ich wollte vor allem mal mit Zadek spielen. Und Zadek inszenierte eben gerade Sarah Kane, so wie später Bondy „Drei Mal Leben". Zuerst war der Regisseur, dann kam das Stück.

Allerdings haben sie den Zadek bald angerufen: Du, wir verstehen das Stück nicht! - Ich auch nicht, antwortete Zadek ruhig, darum inszeniere ich es doch. Mühe und Lothar hat das sofort überzeugt. Was man versteht, braucht man nicht mehr spielen. Alle sterben in „Gesäubert“, werden geschlechtsumgewandelt oder verstümmelt. Und Ulrich Mühe spielte den Wahnsinnschirurgen. Wahrscheinlich hätte „Gesäubert“ Susanne Lothars Real-Chirurgen unendlich deprimiert. Wie soll man nach einer solchen blutüberströmten Seelenmesserfolter am nächsten Morgen um sechs weiteroperieren? Im Publikum Lachen, Türenknallen und Rufe: „Danke, Frau Lothar!“ Noch jetzt geht ein Ruck durch die Frau im weißen Kleid, wenn sie daran denkt. Sie habe auch diese Reaktionen genossen, sagt sie. Der Mensch ist ein Grenzüberschreiter. Und der Schmerz ist das Mal der Grenzverletzung, ahnen wir. Und die ihn nicht ertragen, sind immerhin ein Indiz.

Nur wenige haben dieses Talent zum Schmerz wie Susanne Lothar und Ulrich Mühe. Nur wenige zeigen das Unzeigbare wie sie. Sie wissen von sich selbst und wissen vom anderen, was kaum ein Chirurg ahnt: Das ist äußerste Präzisionsarbeit. Nichts verlangt soviel Genauigkeit wie diese Expeditionen im Reich der ungenauen Dinge. Nur weil beide das wussten, konnte Filmregisseur Michael Haneke beim Dreh von „Funny Games“ eines Morgens vor ihnen stehen mit dem Eingeständnis seiner Ratlosigkeit. Auch „Funny Games“ war ein Kammerspiel der Vernichtung: ein Kind totgequält von zwei Jungsadisten. Und nun, wie den Augenblick nach dem Tod des Kindes zeigen: die Eltern in Großaufnahme? Das ist trivial, wusste Haneke. Also macht ihr das!, sagte er zu Mühe und Lothar.

Kammerspiele der Vernichtung

Wie, das müssten sie selber wissen. So etwas könne man nicht proben. Zehn Minuten lang in einer einzigen Einstellung nach außen stülpen, was Schmerz ist, dieses Oxymoron aus äußerster Intimität und absoluter Allgemeinheit. Mit einer anderen Frau, sagt Mühe, hätte er das nicht machen wollen. Damals drehten alle Komödien, also übten sie den ultimativen Ernstfall. Vielleicht entdecken sie heute, wo das Pathos fast schon im Mainstream wiederkehrt, eine neue Pflicht zur Leichtigkeit. Außerdem kann sich kein Mensch auf Dauer in Wedekind-Haneke-Kaneschen Seelenlaboratorien einschließen, selbst wenn es stimmen sollte, dass alle Erkenntnis aus dem Schmerz kommt und die Menschen sich in solche teilen, die das wissen und in die anderen.

Im Frühjahr spielt Susanne Lothar wieder bei Zadek - die Yvette in der „Mutter Courage“ am Deutschen Theater. Aber Tschechow wäre auch gut, Sonja in „Onkel Wanja“, oder nein, überlegt Susanne Lothar, am liebsten gleich Wanja selbst. Ulrich Mühe sieht seine Frau nachdenklich an. Den Macbeth würde er ihr bestimmt nicht überlassen, obwohl Lady Macbeth auch nicht schlecht ist. Aber jetzt sagt er: Ist gut, dann spiele ich Sonja. „Wir werden arbeiten!“ Das ist so großartig. Ich liebe diesen Schlusssatz.

„Drei Mal Leben“ hat am 31. August im Renaissance Theater Premiere, 20 Uhr.

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