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Yves Raveys Roman „Bruderliebe“: Dunkler Sog

Ökonomisch: Yves Raveys Roman „Bruderliebe“.

Ein Profi hinterlässt keine Spuren. Er wird nie überrascht, weil er alles perfekt geplant hat. Außerdem zeigt er keine Gefühle. In der Theorie. Und im Film. Männer wie Humphrey Bogart oder Alain Delon haben sich stets im Griff. Bis doch irgendetwas schiefgeht. Yves Raveys Roman „Bruderliebe“ steht mit seiner szenischen Erzählweise und lakonischen Sprache in der Tradition des amerikanischen Film noirs und seiner französischer Adepten René Clement und Jean-Pierre Melville. Dass etwas schiefgehen wird, ist von Beginn an zu spüren. Max holt seinen Bruder Jerry am Bahnhof ab. Jerry umarmt ihn und beschwert sich dann darüber, dass er eine halbe Stunde warten musste. „Da wurde mir klar, dass sich seit seiner Abreise vor zwanzig Jahren nichts geändert hatte. Und sofort, trotz allem, was uns verband, unsere Kindheit, mein Vater und meine Mutter, kehrte die Anspannung zwischen uns zurück.“

Anspannung ist bei dem, was sie vorhaben, gefährlich. Jerry war lange und sehr weit weg. Max fragt ihn, ob er „da unten“ inzwischen eine Familie habe. Mit „da unten“ ist Afghanistan gemeint, wo Jerry zum Gotteskrieger wurde. Doch das erfährt der Leser nur bruchstückhaft und nach und nach. Später ist von einer „Bewegung“ die Rede, ein „Waffenbruder“ taucht auf. Weil Jerry offenbar auf der Fahndungsliste steht, treffen sich die Brüder auf einem kleinen Schweizer Bahnhof und fahren im Schutz der Nacht auf Skiern über die Grenze nach Frankreich. In dem Städtchen, wo sie einst zusammen aufwuchsen, wollen sie die Tochter von Max’ Chef entführen und eine halbe Million Euro von ihm erpressen. Ein perfektes Verbrechen.

Oder doch nicht? Samantha, so heißt die Tochter, treibt ein doppeltes Spiel und versucht, kaum dass die Brüder sie an der Landstraße angehalten, aus ihrem Auto gezerrt, niedergeschlagen und in ein Versteck geschafft haben, mit Jerry anzubandeln. Ihr Vater ist hinter der bourgeoisen Fassade des Fabrikanten ein Mafioso, der sich nicht gern übers Ohr hauen lässt. Und die Brüder handeln aus unterschiedlichen Motiven. Jerry will seinen Beitrag leisten im Kampf gegen die Ungläubigen. Max geht es ums Geld.

Dieser Krimi ist ist ein Musterbeispiel ökonomischer Erzählkunst. Auf gerade einmal 110 Seiten entwickelt er von Anfang an einen dunklen Sog. Ravey, der als Professor in Besançon bildende Kunst lehrt und nebenbei 16 Romane schrieb, treibt seine Geschichte mit kargesten Schilderungen und maulfaulen Dialogen voran, dem Abgrund entgegen. Den Leser führt er dabei kunstvoll in die Irre. Das Buch heißt im Original „Enlèvement avec rançon“, Entführung mit Lösegeld. Der deutsche Titel „Bruderliebe“, das ahnt der Leser bald, muss ironisch gemeint sein. Christian Schröder

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