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Edward St Aubyn: Bis zum Hals in Beton: Edward St Aubyns erzählt in seinem Roman „Ausweg“ von der Reise eines kranken Autors

Der berühmte Drehbuchautor Charlie erfährt, dass er vermutlich nur noch sechs Monate zu leben hat. Nun will er etwas Bedeutendes schreiben: keine Popcornkinoskripte mehr, sondern einen gehaltvollen, wirklich „wahren“ Roman.

Der berühmte Drehbuchautor Charlie erfährt, dass er vermutlich nur noch sechs Monate zu leben hat. Nun will er etwas Bedeutendes schreiben: keine Popcornkinoskripte mehr, sondern einen gehaltvollen, wirklich „wahren“ Roman. Und dabei „eine direkte Beziehung zu den Dingen haben“. Ideal erscheint dem Ich-Erzähler in Edward St Aubyns Roman „Ausweg“ dafür Südfrankreich, hier meint er, die großen Themen besser in Angriff nehmen zu können: Tod, Bewusstsein, Zeit.

Der 50-jährige Edward St Aubyn gilt als Wunderkind der britischen Oberschicht. Deren versteckte Gemeinheiten und gemeine Versteckspiele, deren Sadismus und Kaputtheit bereitet er in seinen Büchern genauso genüsslich wie anklagend auf. Sein Roman „Muttermilch“ wurde für den Booker-Preis nominiert, eine stark autobiografisch eingefärbte Romantrilogie machte ihn in den neunziger Jahren bekannt. „Ausweg“ fällt aus St Aubyns Romanwerk etwas heraus, nicht nur, weil er erstmals in der Ich-Perspektive geschrieben ist. Statt des britischen (Geld-)Adels bildet der distinguierte, aber abgehalfterte französisch-internationale Jetset die Kulisse. Und dieses Mal geht es nicht um die Erfahrungen mit dem brutalen Vater, von dem St Aubyn missbraucht wurde, sondern der böse Elternteil ist die Mutter. Deren mangelnde Liebe führt Charlie als Hauptgrund seiner verkorksten Existenz an: „Ich sagte ihr, dass ich mir die Pulsadern aufschnitt, das Blut in der hohlen Hand auffing und meine heißblütigen Worte mit einem Zimmermannsnagel auf die Häute von Schneeleoparden schrieb. Das brachte sie zum Schweigen“. Es fällt schwer, sich vor St Aubyns Metaphernfeuerwerk und Reflexionshagel zu schützen, besonders das erste Kapitel des Romans ist ein einziger, gehetzter Lauf durch Charlies Bewusstsein. Offenkundig leidet er darunter, dass niemand die Nachricht von seinem baldigen Tod ernst nimmt. „Ich stecke bis zum Hals in Beton, und es strömt durch alle Löcher herein“, sagt er, als ihm seine Exfrau Heidi untersagt, noch einmal die gemeinsame Tochter Ton Len zu sehen. Stattdessen will sie Ton Len zum Therapeuten schleppen, „um die Wunde ihres abwesenden Vaters zu heilen“.

Um Muße fürs Schreiben zu finden, beschließt Charlie, all sein Geld in einem Casino zu verspielen – und gewinnt ein unglaubliches Vermögen. Dieses verspielt dann seine neue Muse Angélique, eine Million pro Tag. Was aber Charlie endlich zu der Gelegenheit verhilft, seinen ausschließlich aus Dialogen bestehenden Roman zu schreiben; einen Roman, in dem drei Teilnehmer eines wissenschaftlichen Kongresses während einer Zugfahrt die Frage erörtern, was eigentlich „das Bewusstsein“ ist.

Auch wenn Edward St Aubyn präzise beobachtet, er geistreich und witzig ist, entgleitet ihm der Erzählfaden allzu oft. Hier Charlies wirre Phantasien, dort Charlies verkopfter Roman im Roman, hier Liebe und Freiheitsdrang, dort Zynismus und Ironie: Das ist ein bisschen viel des Guten, und so irrlichtert der Roman seinem ja wahrlich lebenszugewandten Ende entgegen.

Edward St Aubyn: Ausweg. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Dumont Buchverlag, Köln 2010. 208 Seiten, 18,95 €.

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