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Kultur: Ein Atelier auf Wanderschaft

Die 26. Biennale von São Paulo: Mega-Städte sind Zumutungen – und die Kunst baut eine Gegenwelt

Ein dunkler Raum, verführerisches Blinken. Mit „Puzzle-Pólis“ hat Livia Flores eine ganze Stadt aus Müll gebaut – unter Mithilfe von Clóvis, eines obdachlosen Künstlers aus Rio. Wenige Schritte weiter entwirft Pablo Vargas-Lugo aus Mexiko eine Großstadt aus Pyramiden: Mega-City der Vorzeit. Unter Anleitung von Yiu Xiuzhen schneidern chinesische und brasilianische Frauen an altmodischen Nähmaschinen Sehenswürdigkeiten von São Paulo aus Schaumstoff. Und die Australier David Haines und Joyce Hinterding bringen in ihrer Videoarbeit einen Berg zum Einsturz – allein durch die Geräusche von São Paolo, die sie mittels eines Antennenwaldes einfangen.

Nichts hätte näher gelegen, als auch die 26. Kunstbiennale von São Paolo der Großstadt zu widmen – angesichts des Molochs von 20 Millionen Einwohnern. Urbanisation und Stadtentwicklung ist das große Thema der Kunstausstellungen der vergangenen Jahre, von der Documenta in Kassel bis zum weltweit gespannten Projekt der Bundeskulturstiftung, das mit „Shrinking Cities“ gerade in den Berliner Kunst-Werken gastiert. Und der Katalog der brasilianischen Biennale vermerkt: „70 Prozent der Stadtfläche von Caracas sind illegal besiedelt, 80 Prozent der venezolanischen Kinder kommen außerehelich zur Welt. Ganze Stadtteile von Rio de Janeiro sind der Kontrolle der Staatsmacht entzogen. Die kolumbianische Guerilla hat staatsfreie Zonen von der Größe der Schweiz errichtet.“

Und doch hat Alfons Hug, zum zweiten Mal Kurator der Biennale und Leiter des Goethe-Instituts in Rio, sich für den entgegengesetzten Weg entschieden. Nicht dokumentarische, soziologische, politische Kunst will er zeigen, keine Werke, die dem Terror oder dem Krieg gelten oder Globalisierungskritik leisten. Er zielt auf das genaue Gegenteil: Künstler, die selbstbewusst auf die Eigenständigkeit ihrer Sprache bestehen und Gegenwelten schaffen, Welten der Stille, aber auch des Rätsels und des Widerstands. „Niemandsland“ hat Hug diesen umfriedeten Bereich genannt, „territorio libre“: ein Universum der Menschlichkeit, in der auch Poesie, Schönheit und Intimität ihren Platz behaupten. Selten ist die Autonomie der Kunst allen aktuellen Kunstdiskursen zum Trotz so entschieden ausgestellt worden: Die 26. Biennale von São Paulo versucht nichts weniger als eine Neudefinition der Kunst aus dem Geist des Humanismus.

Schon das Gebäude regt dazu an: Oscar Niemeyers Biennale-Pavillon ist eine Oase, Rückzugsort vor den Gefahren der Großstadt. Ein langgestreckter Glas-Kubus, im Inneren eine barock geschwungene Rampe. Von allen Seiten fällt Licht ein, gefiltert durch das Grün des Ibirapuera-Parks, in der Ferne leuchtet die Skyline von São Paulo wie auf einem Foto von Naoya Hatakeyama. Im acht Meter hohen Erdgeschoss erstreckt sich der Skulpturenpark, der mit David Batchelors bunt leuchtender Neonstele oder Artur Barrios Holzsegelschiff „Lisboa“ in die höheren Stockwerke hineinragt. Im ersten Stock, ganz altmodisch, ein „Salon der Malerei“ sowie eine „Multiplex“-Zone mit Videokunst. Die Länderbeiträge, an denen São Paolo ähnlich wie Venedig festhält, sind anders als dort nicht in einzelne Pavillons gepfercht, sondern locker eingestreut – und fügen sich erstaunlich homogen ein. „Territorio libre“ eben, Freiraum für die Nationen.

Nicht wenige Künstler haben sich vom Gebäude inspirieren lassen. Der Portugiese Joao Paulo Feliciano knüpft einen Vorhang aus Plastikperlen, durch den das Licht grünlich schimmernd ins Innere dringt. Thiago Bartolozzo aus Brasilien baut eine Holzkonstruktion, die den Schwung von Niemeyers Rampe aufnimmt und den Blick ins Freie lenkt. Paulo Climachauska spiegelt den Blick aus dem Obergeschoss in einem monumentalen Wandbild, das bei näherem Hinsehen aus lauter Zahlen besteht. Auch das Kölner Büro Brandlhuber, das für den deutschen Beitrag von Thomas Demand einen Raum im Raum schuf, orientiert sich an Niemeyers Formen. Architektur als Korrespondenz.

Kommunikation ist ohnehin ein Thema der Biennale: Kunst als Lingua Franca proklamiert Alfons Hug – als Weltsprache jenseits der „Kakophonie der Massenmedien“. Aber natürlich nimmt auch São Paulo, das sich mit 135 teilnehmenden Künstlern neben Venedig und Kassel zu einem der wichtigsten Ereignisse der Kunstwelt entwickelt hat, teil am Kreislauf des Kunstaustauschs. Dennoch präsentiert die Biennale nicht nur international durchgesetzte Namen: Ein Drittel der Teilnehmer kommt aus Brasilien, ein Akzent liegt auf den südamerikanischen Ländern, ein weiterer auf afrikanischer Fotografie. Eine „Süd-Süd-Achse“ der außereuropäischen Kunst möchte Hug ziehen, als Gegenentwurf zu den lange eurozentrischen Ausstellungen von Venedig und Kassel. Der Erfolg gibt ihm Recht: Schon 2002 kamen 670000 Besucher nach São Paolo, mehr als zur Documenta.

Die Themen selbst sind nicht neu: Malerei, in Europa schon länger wieder aktuell, ist in São Paulo noch so fremd, dass brasilianische Journalisten verunsichert auf ihre Präsenz reagieren. Gerade hier kommen – neben den Positionen von Neo Rauch, Pavel Pepperstein, Luc Tuymans oder Albert Oehlen – die südamerikanischen Länder zu neuen Ehren: mit Pablo Cardoso aus Equador, der die Fahrt von seiner Heimatstadt Cuenca nach São Paulo auf Schwarzweißfotografien festhält und diese minutiös nachmalt: eine Reise in 320 Bildern. Caio Reisewitz aus Brasilien beleuchtet seine großformatigen Fotografien einer Landschaft mit Meer, weißen Kühen und schwelenden, schwarzen Feldern so geschickt, dass sie malerische Qualität bekommen. Auch Catherine Opie aus den USA fängt in ihren Surfer-Bildern Nebel und Dämmerung am Strand von Malibu stimmungsvoll ein: poetische Bilder des Nichts. Und Julie Mehretu, in Äthiopien geboren, in den USA lebend, übermalt Stadtpläne, Häuserskizzen und Flaggen mit einem Wirbel von Farben und Strichen.

Die europäischen Künstler in São Paulo reflektieren eher den Blick des Fremden, machen sich Vorstellungen von Exotik und Abenteuer. Luc Tuymans porträtiert in schemenhaften Bildern den Binche-Karneval in Südbelgien, bei dem Indianerkostüme eine große Rolle spielen. Mark Dion hat gemeinsam mit Wiener Studenten eine Expedition nachgestellt, die den österreichischen Maler Thomas Ender Anfang des 19. Jahrhunderts nach Brasilien führte. Die Ergebnisse präsentieren sie betont altmodisch in Kabinetten, Vitrinen und Skizzenbüchern – und sich selbst als Kartografen, Ethnologen oder Naturalisten. Thomas Struth, der 2002 auf Einladung des Goethe-Instituts nach Peru reiste, brachte Fotografien von blühenden Bougainvillen, Favelas in Lima und prähistorischen Spuren in der NascaWüste mit: In gewohnter Opulenz künden seine Bilder von einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber der Fremde.

Wer dem eigenen Blick nicht traut, konstruiert sich die Wirklichkeit selbst: Thomas Demand baut Modelle von Küchenzeilen, Abfertigungsbändern und Wäldern und führt sie in einem Film mit tanzenden Tellern vor, während Lois Renner aus Österreich sein erstes Atelier in Salzburg nachbaut und ebenfalls fotografiert. Entsprechend gilt als Lieblingswerk der Biennale-Besucher das Atelier von Paulo Bruscky aus Recife, das gleich komplett nach São Paulo verfrachtet wurde. Eine liebenswerte Gelehrtenklause in der Tradition von Dieter Roth, bis unters Dach gefüllt mit Katalogen, Zeitungsausschnitten und Dokumenten. Die Staffelei verstaubt in der Ecke, an der Wand hängt ein Plan der Documenta 1982. Und der Künstler selbst, eine Hemingway-Figur mit Weißbart, posiert lächelnd in seinem Chaos.

Die Kunst als Lebenswelt, das Atelier als Kuschelecke und Zufluchtsort (wie es die gesamte Biennale sein will): ein freundlich-poetischer Anachronismus.

Bis 19. Dezember. Informationen unter www.bienalsaopaulo.org.br

Christina Tilmann

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