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Die Schriftstellerin  Marica Bodrožić.

© Jan Oellermann/Luchterhand

Ein Brief an Europa: Mitgefühl als Waffe

Europa muss für Menschlichkeit einstehen und seine Grenzen weiten. Die Poesie kann dabei helfen findet die Schriftstellerin Marica Bodrožić.

Äußere Grenzen sind Abbilder innerer Grenzen, mehrfach gebrochene mentale Spiegelungen, die unsere Welt zu einem komplexen Netzwerk aus Einstellungen, regionalen Identitäten und kollektiven Systemen seelischer und intellektueller Art machen. Sie erzählen uns, wie sich unser Denken auf unser Handeln auswirkt. Jeder Mensch kann, beginnend bei seinen Lebensorten und -bewegungen, eine innere Landkarte zeichnen und erkennen, wie sein persönliches Leben und seine Zeit aneinander gekoppelt sind. Das ist das Epizentrum von Literatur.

Grenzen sind nicht grundsätzlich schädlich. Sie beschützen auch und stellen Integrität her, sie verschaffen uns Orientierung für unsere Freiheit. Es gibt natürliche Grenzen wie Flüsse, Berge, Seen und Meere. Gleichsam von allein tragen sie dazu bei, dass sich eine ganz spezifische Form von verfeinerter Kultur und Mentalität entwickeln kann. Ein Mensch, der sich selbst und seine eigene Zeit versteht, wird auch anderen als denkendes Wesen begegnen können, vielleicht sogar intuitiv erfassen, warum es in unserer begrenzt zivilisierten Welt nicht nur offene Türen, sondern auch „Grenzen der Gastfreundschaft“ gibt, wie sie die Kulturanthropologin Heidrun Friese in ihrem gleichnamigen, hochaktuellen Buch beschreibt. Es handelt von den Bootsflüchtlingen von Lampedusa und von der europäischen Frage. Frieses Forschungen zeigen, wie unser soziales Denken von unseren konkreten Handlungsmöglichkeiten abweicht. Nur wenn wir von reiner Zweckmäßigkeit zu einem supranationalen Bewusstsein übergehen, können wir neue Räume in unserem Denken erobern.

Literatur ist ein solch beweglicher Denkraum. „Bewege dich, so wirst du schön“, hat der Wiener Schriftsteller Peter Altenberg einmal gesagt. Bewegung erfordert Mut, denn jede Veränderung hinterlässt eine namenlose Lücke, die nichts so dringend braucht wie unideologische Leser!

Europa muss sich dazu durchringen, schnell und effizient auf die Krisen und Nöte unserer Zeit zu reagieren, und Werte wie Vertrauen und Ehrlichkeit in den öffentlichen Raum zurückholen. Wir sind in ein neues Zeitalter übergegangen, vielleicht bereits im Ausklang des letzten Jahrhunderts, als im ehemaligen Jugoslawien erstmals seit Auschwitz auf europäischem Boden wieder Lager und Folterungen möglich wurden: Kriegsverbrechen im unerhörten Ausmaß. Europa wurde in ganz neuer Form aufgefordert, Friedensgarant zu sein und für die zu Grabe getragene Menschlichkeit einzustehen, im Namen all jener, die sich damals wie heute – gleich welcher Religion, Nation oder sozialer Herkunft – Europäer nennen.

"Literatur ist wirklicher als die Wirklichkeit."

Die Schriftstellerin  Marica Bodrožić.
Die Schriftstellerin  Marica Bodrožić.

© Jan Oellermann/Luchterhand

Schnelles, friedfertiges Denken setzt eine im Kern vorhandene Besonnenheit voraus. Dafür muss Europa an den Schnittstellen zwischen Not und Würde Strukturen schaffen, mittels derer gleich geholfen und nicht erst diskutiert wird. Wenigstens diese Lehre müsste aus der Belagerung Sarajevos und der überall um sich greifenden Not gezogen werden. Das setzt eine Kultur des Teilens voraus, die Bereitschaft, sich in den anderen, den Notleidenden, den Verfolgten und Belagerten, den Ausgebombten, den Bootsflüchtling, den von einer Naturkatastrophe Heimgesuchten hineinzuversetzen und ihm nicht nur als weit entfernter Zuschauer zu begegnen. Jeder von uns kann von einem ähnlichen Schicksal heimgesucht werden.

Literatur ist wirklicher als die Wirklichkeit. Wir können aus der Weltliteratur lernen, dass wir alle in die Lage geraten können, die Grenzen unserer eigenen Großzügigkeit und Gastfreundschaft zu sehen. Wir werden diese Grenzen weiten müssen, wenn wir selbst am beschützten Raum teilhaben wollen. Dieser Raum verbindet uns alle. Wir sind verpflichtet, ihn zu bewahren und für ein größeres Wir auszuweiten. Was „am Rande“ des Nationalstaates, am Rande Europas geschehe, so Heidrun Friese, eine der derzeit wichtigsten Stimmen der deutschen Kulturanthropologie, sei längst in das Zentrum Europas gerückt. Wenn wir in einem nicht nur habituell vor uns hergetragenen sozialen Europa leben wollen, ist nun jeder Einzelne sein Zentrum und darf, ja muss Europa aktiv mitgestalten. Die meisten Menschen in den westlichen Demokratien befinden sich in einem tragischen Tiefschlaf. Sie sehen in den Nachrichten, dass anderswo Blut für die Freiheit vergossen wird, glauben aber, dieses Blut habe nichts mit ihnen zu tun. Es ist aber das Blut aller. Jede Freiheit wird teuer bezahlt. Nur wenn wir das Leiden mit einem transnationalen und wieder menschlichen Blick sehen, können wir verstehen, dass unsere Welt untrennbar mit allem und allen verbunden ist.

„Gedanken sind Handlungen.“ Nietzsches Satz ist unsere Realität geworden. Zum Denken kommen wir nur in uns selbst, keine Partei, keine Organisation, keine Nation kann es uns abnehmen. Zugleich müssen wir lernen, zuerst zu betrachten und dann zu handeln, im Sinne Hannah Arendts: Letztlich bekommt derjenige das Wesentliche mit, der zuschaut. Unser Kampf muss geistig sein. Seine Waffe ist unser Mitgefühl, unser Bewusstsein. Nirgends wird es besser geschult als an der Literatur. Und vielleicht löst sich gerade in unserer Zeit jenes Wort von Goethe ein, der einmal zu Eckermann sagte, die Poesie sei ein Gemeingut der Menschheit. Das kann nur dann auch im Politischen geschehen, wenn der Einzelne sein Bewusstsein, seine Schönheit und seine Zerbrechlichkeit auf würdevolle Weise mit den anderen teilt.

Am 8. Oktober wird auf der Frankfurter Buchmesse der Literaturpreis der Europäischen Union verliehen. Die Jurys haben, zum 6. Mal, Texte aus 13 Ländern gesichtet. 2014 kommen die Preisträger aus Albanien, Bulgarien, Griechenland, Island, Lettland, Liechtenstein, Malta, Montenegro, Niederlande, Serbien, Tschechische Republik, Türkei und dem Vereinigten Königreich. In Kooperation mit der Frankfurter Buchmesse veröffentlicht der Tagesspiegel zu diesem Preis „Briefe an Europa“ von europäischen Autoren, die auch an einer sich an die Preisverleihung anschließenden Europa-Debatte teilnehmen werden.

Marica Bodrožić lebt in Berlin. Von ihr ist gerade der Roman „Mein weißer Frieden“ (Luchterhand) erschienen.

Marica Bodrožić

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