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Kultur: Ein Däumling fürs Leben

Die Macht der ohnmächtigen Liebe: Pedro Almodóvars Film „Sprich mit ihr“

Von Jan Schulz-Ojala

Man sagt manchmal, eine Geschichte sei gebaut wie eine Zwiebel: Schicht für Schicht bis zu einer ungefähren Mitte. Reden wir zur metaphorischen Abwechslung mal vom Eisbergsalat. In dessen feiner Mitte fänden wir ein zartes Herz. Drumherum lägen, aus ihren Strünken emporwachsend, die Schichten der Blätter so hauchdünn, als wollten sie sich in ihren unmittelbaren Nachbarn schmiegen. Das zarte Herz von „Sprich mit ihr“ ist ein Film im Film, sieben Minuten lang und schwarzweiß und stumm. Pedro Almodóvar hat ihn erfunden und „Amante menguante“ (Der schwindende Liebhaber) genannt: Er erzählt von dem Geliebten einer Wissenschaftlerin, der nach dem Trinken einer von ihr komponierten Substanz kleiner und kleiner wird, däumlingsklein schließlich – und doch ihr Geliebter bleibt.

Was tut so ein kleiner Mann? Er klettert auf dem nackten Körper der schlafenden Geliebten herum, ein bisschen komisch ist das anzusehen und rührend zugleich, und bald findet er sich vor dem Spalt zu ihrer dunklen Mitte. Und verschwindet in ihr, während über ihr Gesicht eine Seligkeit geht.

Schönes Märchen vom umgekehrten Geborensein, visuell und filmmusikalisch märchenhaft schön gelöst: Es ist der seltsam kindgebliebene Krankenpfleger Benigno (Javier Cámara), der diesen Film eines Abends im Kino sieht. Seit er weiß, dass Alicia (Leonor Watling) alte Stummfilme mag, geht er alte Stummfilme gucken, um sie ihr hernach bei den langen Nachtdiensten zu erzählen – seiner Patientin, die seit vier Jahren im Koma liegt. Und eines Nachts kann er, der ihren jungen Körper pflegend gesund hält, nicht anders als diesen Stummfilm zu spielen. Endlich einmal spricht dieser Däumling fürs Leben nicht mehr mit seiner schönen Schutzbefohlenen, die er doch sonst mit Alltagsworten liebkost. Endlich ist er stumm vor Glück, gerade so wie der schwindende, verschwindende Liebhaber.

Die Geschichte von Benigno und Alicia, die Almodóvar ganz allmählich in die Mitte seines neuen Filmes rückt, ist eigentlich keine Geschichte, sondern so vegetal wie jene hellgrünen Salatblätter, die das zarte Herz des Gemüses schützen. An ihrem Anfang ist eine plötzliche Liebe: Zwanzig Jahre lang hat Benigno, der „Sanftmütige“, seine bettlägerige Mutter versorgt, – nun hat er nur noch Augen für Alicia, die Schülerin aus dem Ballettstudio im Haus gegenüber. Es ist Liebe auf den ersten, einzigen Blick, eine einsame, einseitige Liebe; schon kurz nach ersten Anbahnungsversuchen hat sie einen Verkehrsunfall und liegt im Koma. Und fortan – in den vier Jahren, in denen Benigno Alicia pflegt – ist es eine kindische, ewige Liebe. Bis eines Tages der Körper der Komatösen spricht: Alicia ist schwanger.

Schälen wir uns weiter vom Träumen in die bittere und zugleich wundersame Wirklichkeit. Benigno verliert seinen Job und kommt ins Gefängnis. Und Alicia erwacht, als sie ein totes Kind zur Welt bringt. Benigno soll wiederum dies gerade nicht erfahren, und auch sein einziger Freund, der Journalist Marco (Dario Grandinetti) verschweigt es ihm. Benigno, der schwindende Liebhaber, nimmt sich im Gefängnis das Leben. Das Melodram ist perfekt, und bleibt doch gedämpft: Denn so wie die Kamera darauf verzichtet, Benignos höchstes, einsames Glück zu zeigen, so sehen wir auch nicht die tiefste seiner Einsamkeiten. Wir hören nur Echos: Stimmen, die die Folgen eines Frevels beraten, letzte Nachrichten, die ein Gefängnisdirektor überbringt.

Und Marco, den wir in einer der ersten Einstellungen des Filmes weinen sehen, weint von neuem: „Sprich mit ihr“, hatte Benigno ihm im Blick auf Alicia und alle lebendig begrabenen Seelen gesagt, und es steckte in diesem Ratschlag nichts Geringeres als das Rezept, die Tragödie zu überwinden, indem man sie einfach nicht wahrnimmt. Nun aber ist Marco zu spät gekommen – und hat mit Benigno nicht mehr sprechen können.

Je näher wir ans Äußere, an die zahlreichen Äußerlichkeiten dieses zugleich stillsten, innerlichsten Filmes Almodóvars kommen, desto näher siedelt das Geschehen am Kitsch. Selbst im zeitweise Heiteren tönt stets das Stakkato der Schicksalsschläge durch, und im Elegischen ohnehin. Und als traute Almodóvar nicht seiner kleinen, reinen Geschichte allein, muss auch der ruhelose Weltenbummler Marco, der an der unvollendeten Liebe zu einer Heroinsüchtigen leidet, mit der Matadora Lydia (Rosario Flores) eine neue Liebe finden, die alsbald ins Koma fällt: Bei einem ihrer Kämpfe wird sie von einem Stier verletzt.

Aber hat nicht auch sie sich vielleicht absichtlich geopfert, weil sie mit einer Liebe zu einem Matador, der ihr erst den Zugang in diese Männerdomäne eröffnet hatte, nicht fertig war? Lauter Seelenschichten, lauter Superlative des Schmerzes: Irgendwann machen sie taub.

Doch ist das alles Beiwerk. Auch Pina Bauschs Ballette „Café Müller“ und „Masurca Fogo“, die den Film eröffnen und beschließen: edles, fein ins Geschehen hineingewebtes Beiwerk. Beiwerk auch die famosen Auftritte von Geraldine Chaplin als Ballettmeisterin und von Caetano Veloso, der mit einem Mini-Orchester die sicher weltschönsten Takte von „Cucurrucucú Paloma“ singt.

Prächtiges Beiwerk das alles, blendende Hülle für einen Film, der stark ist in seiner delikaten, tiefen Mitte: in der Antwort auf das „moralische Dilemma“ (Almodóvar) der sexuellen Vereinigung zwischen einem Selbstvergessenen und einer Bewusstlosen, zwischen dem benignen Benigno und Alicia im Wunderland. Liegt das Wunder im Erwachen aus dem Koma oder vielmehr in einem tiefen, gemeinsamen Nichtbeisichsein?

Almodóvar verzichtet, wie schon Kleist in der „Marquise von O...“ und wohl alle Künstler, die sich von der Magie solchen Augenblicks angezogen fühlen, auf das Urteil, das die Gesellschaft in solchen Fällen fällt und fällen muss. „Hable con ella“ ist ein Plädoyer für die Bewusstlosigkeit der Liebe.

In Berlin ab Donnerstag in sieben Kinos, im Odeon im Original mit Untertiteln.

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