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Kultur: Ein Fall für zwei, ein Fall für alle

Am 1. Mai beginnt das 41. Berliner Theatertreffen. Diesmal wird das Gipfeltreffen der deutschsprachigen Bühnen auch zum auswärtigen Lokalderby: Denn zur Eröffnung gastieren zwei Inszenierungen aus München – die ruhmreichen Kammerspiele stehen jetzt in Konkurrenz zum Residenztheater

Fußball ist nicht nur Politik oder Theater, geschweige denn das schiere schönere Leben. Aber manchmal sind die Vergleiche doch zu verführerisch. Zumindest, wenn es um das deutsche Mittelfeld und die stumpfen Sturmspitzen geht – beim Fußball wie in der Politik. Oder wenn wir vom Theater in München sprechen.

Da schien die Rollenverteilung fast drei Jahrzehnte lang völlig klar. Top und gleichsam der FC Bayern, das waren die Münchner Kammerspiele. Und als Traditionsverein, doch eben sehr viel glanzloser, galt das Bayerische Staatsschauspiel, nach seinem Stammhaus meistens nur Residenztheater (sprich: Resi) genannt und spielerisch wie die Löwen von 1860 München oft im unteren Drittel der (Theater-)Bundesliga. Etwas schief wirkt an der Analogie nur der Umstand, dass die Münchner Kammerspiele als kleineres städtisches Haus mit dem FC Bayern verglichen wurden und nicht das große Staatstheater, dessen alleroberster Dienstherr, der Ministerpräsident, auch Aufsichtsrat der Fußball-Bayern ist.

In diesem Jahr aber, wenn das 41. Berliner Theatertreffen (1.–17. Mai) mit zwei Münchner Produktionen eröffnet wird, scheinen Prestige und aktueller Erfolg plötzlich umgekehrt. Die Kammerspiele, die zum Auftakt am Wochenende „Anatomie Titus Fall of Rome“ zeigen, Heiner Müllers Tartarisierung (und Skelettierung) des Shakespeare-Schauerdramas von Titus Andronicus, die Münchner Kammerspiele also reisen nun eher als Außenseiter zum Gastderby mit ihrem Lokalkonkurrenten. Favorit, auch dieses gesamten Theatertreffens, ist dagegen Anton Tschechows „Onkel Wanja“, im Münchner Residenztheater inszeniert von Barbara Frey. Seit langem ist so das Bayerische Staatsschauspiel wieder einmal nach Berlin geladen, zu dieser inoffiziellen Meisterschaft der deutschsprachigen Theaterländer.

Das ist ein Erfolg auch des 68-jährigen Resi-Intendanten Dieter Dorn. Dessen Theater hatte es zumindest in den letzten Jahren schwer, vor den Augen der (meist wesentlich jüngeren) Theatertreffen-Juroren zu bestehen. Das galt bereits für die Zeit vor dem September 2001. Bis zu jener Saison nämlich war Dorn – fast 20 Jahre lang – Chef der Münchner Kammerspiele: des in der Publikumsgunst und bei der Kritik klar führenden Hauses. Und just 1983, als Dorn in den Kammerspielen vom Chefregisseur zum Intendanten avancierte, da übernahm ein Fastnobody namens Frank Baumbauer die Leitung des Bayerischen Staatsschauspiels – bis ihn drei Jahre später der damalige Ministerpräsident Strauß aus dem Amt werfen ließ. Aber auch Baumbauer residiert seit Sommer 2001 wieder in München, als Dorns Nachfolger in den Kammerspielen. Genau das bedeutet für Dorn bis heute nach eigener Auskunft „eine offene Wunde“ – und für Baumbauer „einen höllisch schweren Job“.

Hier sind wir dann schon tief drinnen im Münchner Kulturdrama, das über zwei Personen und zwei (kaum einen Steinwurf von einander entfernte) Häuser hinaus auch eine Menge erzählt über das heutige deutsche Theater. Während drüben, jenseits der eigentlich schönen, doch immer mehr verneureichten Münchner Maximilianstraße, beim Resi sich auf dem Theaterplakat wie einst zu Dornschen Kammerspielzeiten die roten „Ausverkauft“-Aufkleber häufen – das geht von Georg Ringsgwandls Kir-lokalhafter Musicalsatire „Prominentenball“ über den „Onkel Wanja“ und den Hube’schen „Herzkasperl“ bis zu Dorns Shakespeare-Inszenierung des „Kaufmanns von Venedig“ –, währenddessen sehen wir Anfang dieser Woche die frisch und schick restaurierten Kammerspiele so leer wie nie zuvor. Erst Anselm Webers hochmanierierter Versuch, ein Zeitstück von Wassilij Sigarew über russische Straßenkids, Suff, Prostitution und Jugendselbstmorde zu einem modernen „Frühlings Erwachen“ zu stilisieren. Dieses „Plastilin“ findet im 600-Zuschauer-Haus das Interesse von gerade mal 200 eher betretenen Gästen.

Eine Fehldisposition, das weiß man natürlich auch im Baumbauer-Team. Doch am nächsten Abend, immerhin bei Schillers „Don Karlos“ (mit dem „K“ der Urfassung), sind sie wieder erschreckend: die Lücken im Parkett dieses einst überlaufenen, schon wegen seiner Mischung aus Intimität und Größe von Schauspielern, Regisseuren und Publikum geliebten Jugendstilhauses. Und diesmal zwar auf höherem Niveau, markiert es doch abermals ein Scheitern. Der in diesem Jahr – nach einem fahlen Basler Ibsen 2002 – mit der Uraufführung eines in Hannover und Graz koproduzierten Stücks des Österreichers Händl Klaus („Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen“) bereits zum zweiten Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladene Regisseur Sebastian Nübling ist immerhin schon 43. Aber sein Münchner „Don Karlos“ verhampelt, verjuxt und verrast Schillers Pathos der politischen (und emotionalen) Jugendrevolte ins ziellos Irr-Läufige. Keine Spannung, kein Erstaunen, keine Befremdung wird ausgehalten – stattdessen nur ein zur Parodie oder Hysterie verkommendes Kunst-, nein: Künstlichkeitsgewerbe ausgestellt. Ein paar szenische Details lassen Nüblings theatrale Energien ahnen, aber der Einfall bleibt immer ein Ein(zel)fall, und diese so möchtergernjunge wie metierunsichere Inszenierung rast auf der Stelle eines selbstreferentiellen Theatertheaters.

Trotzdem wird es Frank Baumbauer, der ein kluger, risikobewusster und „meinen Regisseuren erst mal treuer“ Intendant ist, mit einem wie Nübling gewiss noch ein weiteres Mal probieren. Seit seinem frühen Münchner Rausschmiss hat sich der heute 58-jährige geborene Münchner (der wie sein Antipode Dorn im Kopf eher ein leistungsethischer Preuße ist) in Basel und Hamburg zum entdeckungsfreudigsten und in der Spanne zwischen Christoph Marthaler und Frank Castorf profiliertesten Theaterdirektor entwickelt. Für München und die Kammerspiele war seine Berufung im Grunde ein Glücksfall. Sein Pech war nur, dass der dort zwei Jahrzehnte umjubelte Dorn zuvor in einem unwürdigen Hauruckverfahren nicht vertragsverlängert und quasi vor die Tür gesetzt wurde. Worauf Dorn, nach kurzem Liebäugeln mit dem Deutschen Theater Berlin, dann tief verletzt, aber erfolgsstolz mit seinem in Deutschland einzigartigen Ensemble, mit Rolf Boysen, Thomas Holtzmann, Gisela Stein & Co., auf die andere Straßenseite wechselte – und die Münchner seitdem ins wiedererweckte Resi strömen und dem Haus mit seinen 900 Sitzen gut 90 Prozent Platzausnutzung bescheren.

Baumbauer kann demgegenüber gerademal auf 70 Prozent hoffen. Aber sein Team, zu dem jetzt die erfolgreiche Luzerner Ex-Intendantin und beinahe Kölner Generalintendantin Barbara Mundel als Chefdramaturgin stößt, hat zuletzt mit Jossi Wielers Claudel-„Mittagswende“ wohl die eigene Wende bei Publikum und Kritik geschafft. Und man kann dabei auf Regisseure wie Wieler, Luc Perceval oder Johan Simons („Anatomie Titus“) sowie auf Schauspieler wie André Jung, Nina Kunzendorf, Hans Kremer oder die junge Begabung Matthias Buntschuh setzen.

Auf Schauspieler und auf Texte setzt vor allem auch Dieter Dorns Theater, das weniger von exaltierten Ausreißern als manchmal von einer qualitätsvollen Gediegenheit bedroht ist. Wo es aber nicht nur die große Vergangenheit, sondern viel Zukunft hat, das zeigt die witzige, wehmütige, intelligenzsprühende Version des „Onkel Wanja“. Die 40-jährige Schweizer Regisseurin Barbara Frey, die nach Berliner Schaubühnenanfängen („Ubu“) hier endlich mit erstklassigen Akteuren arbeitet, hat dem hundertjährigen Stück, trotz kleiner Schwächen am Rande, eine starke Gegenwärtigkeit verliehen. In modernem Ambiente zeigt das bei ihrem Bühnen-Comeback am schönsten Sunnyi Melles: Im kurzen Röckchen und in Basketballstiefeln gibt sie ein heutiges scharfes Girlie und ist zugleich, im Zusammenspiel mit dem wunderbaren alten Thomas Holtzmann als Eheschrat und Stefan Hunstein als zynisch-utopisch-idealistischem Arzt Astrow, wechselweise eine stolze, neugierig-naive, laszive Professorengattin – und zupackende Liebhaberin. Eine Figur, die so zwischen den Zeiten und den eigenen Häuten, Konventionen, Kostümen oszilliert. Das kann Theater auch heute noch zeigen. Und wie!

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