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Kultur: Ein Film fürs ganze Leben

Alexander Askoldow drehte vor 35 Jahren „Die Kommissarin“. Dann war für ihn Schluss: Berufsverbot von den Sowjets. Die Geschichte einer verhinderten Hoffnung

Der Film endet mit der Internationale. Langsam, tief und voller Wehmut hängt sie über Ebenen, Feldern und verlassenen Dörfern, über zerstörten Kirchen und verbarrikadierten Synagogen. Detonierende Bomben unterbrechen ihre Melodie, zersieben die Landschaft, töten Krieger und Zivilisten. Aber eine einzelne Trompete bläst weiter zum letzten Gefecht. In der allerletzten Einstellung tragen junge Männer, fast Kinder noch, eine rote Fahne durch den Schnee. Ihnen gehört die Zukunft. Doch als „Die Kommissarin“ 1988 aus der Verbannung direkt zur Berlinale kam, war diese Zukunft schon fast Vergangenheit. Heute, 14 weitere Jahre später, wirkt der heroische Fußmarsch der tapfereren Rotgardisten fast wie ein Begräbniszug; die Internationale klingt wie ein Requiem, für den Traum von einer besseren Welt, der einmal auch Alexander Askoldows Traum war.

„Vielleicht habe ich mir 1967 schon gedacht, was alles noch kommen würde“, sagt der Regisseur, der seit zwölf Jahren in Berlin lebt. Vielleicht hat er damals schon geahnt, dass das Tauwetter bald gefrieren würde, weil der Apparatschik Breschnew besser wusste als die Lichtgestalt Gorbatschow, dass die Sowjetunion einen ernsthaften Modernisierungsversuch gar nicht überleben könnte. Vielleicht hat er schon vor 35 Jahren gespürt, dass sein Kampf für einen ehrlicheren Kommunismus aussichtslos war. Wahrscheinlich ist das nicht.

Der Traum von einer besseren Welt

Askoldow war erst 30 Jahre alt, als „Die Kommissarin“ abgedreht war. Ein junger Mann, der sich mit einer Dissertation über den in der Sowjetunion lange verbotenen Schriftsteller Michail Bulgakow bei der kritischen Intelligenzija dieser Zeit einen Namen gemacht hatte. Er hatte an der theologischen Fakultät studiert, galt als Ausnahmetalent und glühender Antistalinist. Nach Chruschtschows Entstalinisierungsrede im Februar 1956 war er freiwillig in die KPdSU eingetreten. Sein Marsch durch die Institutionen führte nicht weit. Zehn Jahre später hatte die Partei, die er reformieren wollte, ihn wieder verstoßen. Der offizielle Grund: „Die Kommissarin“ konnte die Zensur nicht passieren. Trotz des versöhnlichen Endes verstieß die Geschichte einer Rotarmistin, die ihre Truppen verlässt, um in einem jüdischen Schtetl ein Kind zur Welt zu bringen, so eklatant gegen die Konventionen der sowjetischen Heldenepen der Bürgerkriegszeit, dass sich die Gerichte später nicht einmal mehr die Mühe machten, die Anklagepunkte im einzelnen aufzulisten. Askoldow wurde als „Dieb“ verurteilt, der dem Vaterland mit der Produktion eines antisowjetischen Streifens Geld gestohlen hatte. „Die Kommissarin“ verschwand im Giftschrank. Selbstkritik war in seinem Fall ausgeschlossen. Das Pauschalurteil hatte es den Richtern einfach gemacht, ihn mit einem Berufsverbot für alle Bereiche des Kinos zu belegen. Er musste sich auf anderem Wege durchschlagen, arbeitete als Lohnarbeiter in einer Autofabrik, später im Musiktheater. Bis er Anfang 60 war.

Heute ist er Mitte 60. Alles an ihm scheint grau zu sein. Die Haare, das Hemd, die Hose, sogar seine stahlblauen Augen. Missmutig, als erwarte er einen Vertreter, der ihm eine Versicherung aufschwatzen will, empfängt er den Besuch in seiner kleinen Hinterhofwohnung in Berlin-Moabit. „Setzen Sie sich“, sagt er, noch bevor der Gast den Mantel ablegen kann. Er hat wenig Zeit, zumindest vermittelt er das Gefühl. Er will kein Emigrant sein, der in der Fremde sitzt und in den Tag hineinlebt. Die Askoldows legen Wert darauf, zum Arbeiten nach Deutschland gekommen zu sein. Swetlana Askoldowa schreibt an einer Studie über das amerikanische Bildungssystem, ihr Mann ist Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Filmhochschulen und Leiter des Russischen Klubs im Kino Arsenal. Ihr Visum wird seit 1990 alle zwei Jahre verlängert. Trotz der langen Zeit, die sie in Deutschland sind, wirkt ihr mit abwaschbaren Tapeten ausgeschlagenes Apartment noch immer, als wären sie erst gestern angekommen. Sie scheinen immer noch aus den Koffern zu leben, die überall herumstehen. Ein paar Möbel haben sie auch. Grüne Cordsofas, wie man sie beim Trödler bekommt, Tische und ein paar Bücherregale. Der Rest ist in ihrem Innenstadtquartier in Moskau geblieben. Kürzlich, sagt Swetlana Askoldowa, hätten neue Reiche das Stockwerk über ihnen zum Hochsicherheitstrakt umgebaut. Ihnen sei während der Renovierungsarbeiten fast die Decke auf den Kopf gefallen. „Alles ist kaputt“, klagt sie. Ihr Mann zuckt nur gleichgültig mit den Schultern. Soll der ganze Klumpatsch doch verschütt gehen! Er braucht ihn nicht mehr. Seinen Tee trinkt er aus Tassen vom türkischen Import-Export-Laden. Askoldow hat sich im Provisorium eingerichtet.

Er ist groß, noch im Sitzen ein Riese. Etwas unbeholfen hockt er auf seinem Schreibtischstuhl, die Hände liegen fest auf den Schenkeln, als müsse er sie festhalten. Hinter ihm steht eine mechanische Schreibmaschine, die er 1957, im Jahr der großen Hoffnungen, gekauft hat. Vor ihm eine Thermoskanne, Käse, Weißbrot, das klassische Teegedeck der Russen. Möglich, dass er sich kein Leben im Hinterhof vorgestellt hat, als er vor zwölf Jahren ein Stipendium vom DAAD erhielt und beschloss zu bleiben. Aber es sind nicht materielle Gründe, die den einst gefeierten Helden der Perestrojka hier halten. Es sind die schönen Erinnerungen an die Zeit, da er fast ein Star war. „Kontakte“, sagt seine Frau.

„Ich hasse Russland nicht“

Deutschland ist das Land von Askoldows „Wiedergeburt“. Hier bekam „Die Kommissarin“ 1988 den Silbernen Bären und den Preis des internationalen Kritikerverbandes Fipresci bei der Berlinale. Selbst in der DDR kürten ihn die Kritiker zum Film des Jahres 1988. Danach wurde „Die Kommissarin sofort wieder aus dem Verkehr gezogen. In Dresden gab es sogar eine Demonstration für den Film, wie Askoldow aus westdeutschen Medien erfuhr. Er erinnert sich genau and das Foto: „Studenten trugen hektografierte Filmplakate und wurden wahrscheinlich von unserem Putin dabei beobachtet.“ Die Vorstellung amüsiert ihn.

Sein Verhältnis zur Heimat gleicht dem zu einer geschiedenen Ehefrau, über die man gern mal böse lacht, weil es die Trennung erleichtert. Er hasst dieses Land nicht, an dessen lichte sozialistische Zukunft er einmal so sehr geglaubt hat. Seine Tochter und drei Enkel leben dort. Aber Russland hat es eben nicht gut mit ihm gemeint. „Joseph Brodsky bekam den Nobelpreis, nachdem er ausgewiesen wurde“, sagt Askoldow. Er musste bleiben, wurde mit Ausreiseverbot belegt und „totgeschwiegen“. Irgendwann glaubte dann niemand mehr, dass es den Film, von dem er immerzu sprach, wirklich gab. Er hatte nichts in der Hand, nicht einmal eine Kopie, die er in den Westen hätte schmuggeln können. Askoldow war 20 Jahre lang ein Niemand. Und als sein Film 1987 auf dem Moskauer Filmfest schließlich gezeigt werden musste, weil Vanessa Redgrave und Robert de Niro sonst abgereist wären, war es für ihn zu spät, dort anzuknüpfen, wo er 1967 unterbrochen worden war.

Aus dem himmelstürmenden Tauwetterkind war ein skeptischer Mann mittleren Alters geworden, der für ein paar aufregende Jahre seinen zweiten Frühling erlebte. Er wirkt auch gleich um 20 Jahre jünger, wenn er darüber spricht. Der zuvor eher wortkarge Mann redet wie ein Tonband ohne Stopptaste. Er erinnert sich genau an die betretenen Gesichter der Filmfunktionäre, als die Staatsgäste aus Hollywood – von ihm instruiert – Gorbatschow unter Druck setzten, den Film aus dem Giftschrank zu holen. Er weiß, wie er in Moskau saß, als „Die Kommissarin“ schon auf der Berlinale lief, bis ein Fax von Wim Wenders und Volker Schlöndorff beim ZK einging, das fragte, wo er denn bleibe. Am nächsten Tag empfingen ihn ihn KGB-Leute mit versteinerten Gesichtern am Flughafen Schönefeld. Genüsslich äfft er ihre Leichenbitterminen nach. Wie er es denen gezeigt hat!

Die Askoldows hatten für die Berlinale nur 150 Mark zur Verfügung. Davon kauften sie ihrer Tochter am ersten Tag in Charlottenburg ein Kleid, und konnten sich danach nicht einmal mehr einen Drink an der Bar leisten. Aber das spielte keine Rolle. Sie waren auf der ersten Auslandsreise ihres Lebens und wie im Rausch. Alexander Askoldow gab Interviews wie am Fließband, er traf Leute, die er verehrte, aber nur dem Namen nach kannte. Wenders, Schlöndorff, István Szábó und Roberto Benigni sind bis heute seine Freunde. Er schätzt sie als Menschen, die ihm sehr geholfen haben und als Künstler, die machen, was er auch immer machen wollte: „Filme, die die Welt verbessern“. Wahres Kino sind für Askoldow große Geschichten, große Gefühle, große Themen und großartige Bilder, Dowschenkos „Sturm über Asien“, Fellinis „Amacord“ und Szábós „Mozart“. Er liebt die Klassiker auch deshalb, weil er selbst einer ist.

Seine fast peinigend langsame, die Erhabenheit des einzelnen Moments auskostende Bildsprache, der exzessive Gebrauch religiöser Metaphern wirkt heute ebenso fremd wie das auf Überwältigung zielende Revolutionsgepolter von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“. Ein Vergleich, dem er gerne zustimmen kann. Wie zum Beweis nimmt er aus seinem Regal ein Foto von Nicoletta Braschi. Sie trägt darauf ein getupftes Kleid und einen großen Gracia-Patricia-Hut. „Sascha“, soll sie, hier bei ihm auf dem grünen Cordsofa gesagt haben, „es ist nicht zum Aushalten, was die heute für Filme halten“. Eine Verbündete im Ressentiment gegen die Sinn- und Form-Zertrümmerer der Gegenwart, die Spaßmacher und Unterhaltungsfabrikateure? Oder nur eine liebe Freundin, die weiß, was er vom heutigen Kino denkt? Andreas Dresen ist der einzige jüngere Filmemacher, den Askoldow gelten lässt. Er sei, sagt er, ein wahrer Realist. Was sonst so gedreht wird, in Deutschland, in Russland und eigentlich überall, hat für ihn, seine Freunde immer ausgenommen, die Qualität von Videoclips. „Wir wurden zensiert, aber wir hatten ein großartiges Kino“. Er sagt jetzt tatsächlich „wir“. In seinem Russischen Klub zeigt er einmal im Monat die Filme seiner Jugend: „Kalina Krasnaja“, „Wie die Kraniche ziehen“, „Moskau glaubt den Tränen nicht“.

Und wie er da so sitzt, die Kaffeetasse vor sich, das Brot und den Käse, und von „unserer“ sowjetischen Filmkunst schwärmt, möchte man meinen, er sehne sich manchmal doch zurück nach seiner ehemaligen Gattin Russland, an deren Seite er so lange gelebt hat. Seine neue deutsche Geliebte ist schließlich auch nicht mehr die Jüngste und sie ist zickiger, als er damals im großen Rausch der Gefühle gemerkt hat. Ihre ewige, von Hassliebe geprägte Affäre mit den Vereinigten Staaten, ihre fast krankhafte Hollywood-Fixierung treibt ihn, der die Amerikaner noch nie gemocht hat, genauso zum Wahnsinn wie die Inbrunst, mit der sie sich in ihrer eigenen Schuld suhlt. Die sowjetischen Juden, die als Kontingentflüchtlinge in Deutschland seit 1990 Aufnahme finden, mag er, dem es zum Verderben wurde, das unter Stalin zerstörte Schtetl auf die Leinwand gebracht zu haben, überhaupt nicht. „Ihr ladet euch jüdische KGB-Generäle ins Land und füttert sie durch als Entschädigung für einen Holocaust, den sie gar nicht erlitten haben“, sagt er.

Zweiter Film war geplant

Für Askoldow sind seine emigrierten Landsleute Karikaturen von gewendeten Sowjetmenschen. Er verachtet sie für ihr vom deutschen Staat gesponsortes Mittelklasseleben, ihren verzweifelten, in einem Leben mit dem permanenten Defizit gewachsenen Materialismus. Am meisten aber verachtet er sie für ihre naiven Hoffnungen auf einen Neubeginn im Westen, die einmal seine Hoffnungen waren.

Auch Alexander Askoldow, den das Schicksal vor 14 Jahren aus der Breschnew-Ära in die Posthistorie katapultierte, hat wie die meisten Emigranten nicht mit der Zeit gehen können. Auch er hat versucht, das Gestern mit dem Heute zu vereinen, und auch er ist irgendwo dazwischen stecken geblieben. Mitte der 90er Jahre arbeitete er an einem neuen Film. Er sollte „Reise nach Jerusalem“ heißen, und die Geschichte des jüdischen Theaters im Moskau der 30er Jahre erzählen. An der Figur des Schauspielers Salomon, der trotz der Pogrome dieser Zeit zum Protegé Stalins wurde, wollte er zeigen, dass auch Opfer Täter sein können. Das Filmboard Berlin-Brandenburg und die Filmförderung Hamburg hatten die Finanzierung zugesagt, auch die Besetzung stand. Rolan Bykow, der in der „Kommissarin“ als jüdischer Kesselflicker so wunderbar war, sollte die Hauptrolle übernehmen. Er starb kurz vor Drehbeginn. Das Projekt wurde aufgeschoben und nie wieder aufgenommen. „Ich weiß, was Sie jetzt denken: schon wieder so eine Judengeschichte“, sagt er streng. Aber das ist nun mal sein Thema.

Auch „Die Kommissarin“ war zu ihrer Zeit eine „Judengeschichte“. Heute ist sie das allerdings nicht mehr. Nach all der Klezmermusik, die man gehört, nach all den Geschichten übers Schtetl, die man gesehen und gelesen hat, nach all dem philosemitischen Kitsch, der auf uns kommt, fällt es einem schwer, die Brisanz zu erahnen, die darin lag, dass es – in den dreißiger Jahren deportierte – jiddisch sprechende ukrainische Juden waren, die Klawdija Wawilowa während des Bürgerkrieges das Wochenbett bereiteten. Weil die Kommissarin nach der Geburt wieder in den Krieg zurückkehrt, behauptete ein westdeutscher Kritiker nach der Deutschlandpremiere 1988, „Die Kommissarin“ sei ein Film über die Emanzipation. Diese Interpretation wurde der komplexen Geschichte über eine Frau, die eingekeilt ist zwischen abstrakten Idealen und persönlichen Umständen, der immer noch imposanten Parabel darüber, wie viel einfacher es sein kann, einen Menschen zu töten, als einem das Leben zu schenken, schon damals nicht gerecht. Heute will Askoldow von einer solchen Lesart überhaupt nichts mehr wissen. Die Wawilowa könne nicht glücklich werden, nachdem sie ihr Kind für die Revolution im Stich gelassen hat, sagt er. Keine Mutter könne das. Und nachdem nun auch die Revolution ihre Kinder im Stich gelassen hat, würde er den Schluss wohl anders gestalten. „Filme altern schnell“.

Er weiß nicht mehr – oder vielleicht sagt er es nur nicht – was er empfand, als er sein Werk 1987 nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder sah. Er sagt auch nicht, ob er es überhaupt wiedererkannte. Er kann sich nur noch an den Applaus erinnern: 14 Minuten stehende Ovationen.

Stefanie Flamm

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