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Kultur: Ein Fräuleinwunder

Hamburgs neue Kultaufführung: „Cabaret“ an der Reeperbahn

So bezaubernd und zugleich melancholisch hat man dieses weltberühmte Berlin-Musical wohl noch nie gesehen. „Cabaret“ mit dem Dreißiger-Jahre-Nollendorfplatz, mit der puffig plüschigen Pension von Fräulein Schneider und dem halbrotlichtigen Kit-Kat-Club ist nun eingezogen an der Reeperbahn. Ins wunderbar angegammelte St-Pauli-Theater: Hamburgs älteste Schaubude, 1841 erbaut, zwei Ränge, 600 Plätze, ein bisschen roter Samt und die Wände schwarzgold gemalt. Das Haus liegt gleich neben der filmbekannten Davidswache im Polizeirevier 15 sowie dem glitzernden Varietee von Schmidts Tivoli. Und neben „Angie’s Nightclub“.

Hier, im handlungsverwandten Milieu, hat Ulrich Waller die „Cabaret“-Geschichte nicht bloß ein weiteres Mal erzählt. Bei Waller, der früher schon die kleinen Hamburger Kammerspiele zusammen mit Ulrich Tukur (und Zadek-Inszenierungen) zur erfolgreich flottierenden Fregatte neben den Großtankern Thalia Theater und Deutsches Schauspielhaus gemacht hatte, bei ihm wirkt das allabendlich ausverkaufte Stück mit einigen glänzenden Spielern und Musikern streckenweise fast neu erfunden. Auch gegenüber den Vorbildern der Verfilmung mit Liza Minnelli und Joel Grey.

An Lizas umwerfende Sally Bowles und Greys diabolisch virtuosen Conférencier kommt ja ohnehin keiner ran. Diese Selbsterkenntnis hat zuletzt auch die schöne, winzräumig instrumentierte „Cabaret“- Version in der Berliner Bar jeder Vernunft zu ihrer spielerischen Voraussetzung gemacht. Im St.-Pauli-Theater kann die neunköpfige Band von Matthias Stötzel auf den von kippenden Sektkelchen gesäumten Showtreppen (Bühnenbild: Ilse Welter) nun etwas mehr musikalische Opulenz und einen Hauch Talmi-Glamour entfachen. Aber wie in der Berliner Bar dominiert im Kern das Kammerspiel. Das freilich ist filigraner, psychologisch raffinierter inszeniert: mehr Theater, mehr Interpretation. Nicht nur eine pfiffige Brettl-Version.

Man nehme zum Beispiel den Titel- Song. Sally Bowles erwartet ein Kind vom amerikanischen Schriftsteller Cliff Bradshaw, dem Untermieter bei Fräulein Schneider. Indes randalieren draußen bereits die Nazis, es sind die letzten Zuckungen der libertären Weimarer Republik, und das verängstigte Fräulein Schneider kündigt die grad geschlossene Verlobung mit Herrn Schulz, ihrem jüdischen Mituntermieter. Also hat Bradshaw für sich und seine Freundin schon Zugkarten für die Abreise nach Paris besorgt. Da kommt Sally, fröstelnd, braucht Gin, ihr Pelz ist fort – der Preis dafür, dass auch das werdende Kind weg ist. Bradshaw alias Christopher Isherwood, der mit dem Roman „Goodbye to Berlin“ die „Cabaret“-Vorlage schrieb, verlässt daraufhin Deutschland.

Und Sally Bowles kehrt zurück in den Kit-Kat-Club, singt nun: „Life is a Cabaret“. Wo Liza Minnelli den Verlust von Liebe und neuem Leben alkoholisch runterspülte und sich im Scheinwerferlicht des Cabarets mit immer tollerem Drive herauf- und heraussang ins Sekundenglück der Droge Musik, da passiert in Hamburg erst mal eine lange halbe Minute gar nichts. Die junge, sehr ephebenhafte Sally-Darstellerin Anneke Schwabe steht verstummt und verstört vor dem Mikrofon, eine doppelt Ausgehöhlte, fast haucht sie dann nur den Anfang, als suche sie erst die Worte: „What good is sitting alone / In your room?“ Erst allmählich kehrt ihr Überlebenssinn zurück. Doch im Refrain „Life is a Cabaret, old chum“, wird der „chum“ (der Kumpel, das alte Ich) nie zum vehementen Paukenschlag, es bleibt noch im Triumph der Selbstberauschung ein Stoßseufzer. Auch Verve und Charme übertönen nicht den Harm.

Das irritiert, und das illustre Premierenpublikum, inklusive Udo Lindenberg, braucht einen Moment, ehe der Szenenbeifall losbricht. – Als Star des Abends wird indes Gustav Peter Wöhler annonciert. Sein dünnlippiger Conférencier mit der dämonischen Schmalzlocke zitiert das Bild des Joel Grey nur ironisch. Stattdessen ist der untersetzte Wöhler ein durchaus klassischer Entertainer, perfekter Sänger, witzig und bei aller Leibesfülle überraschend leichtfüßig (Choreografie Rica Blunck). Etwas blass daneben der Schriftsteller Bradshaw in Mario Ramos’ Gestalt. Zum Ereignis aber wird das ältere Paar: werden Elisabeth Schwarz und Peter Franke als Fräulein Schneider und Herr Schulz.

Elisabeth Schwarz spielt, ähnlich wie Angela Winkler in Berlin, die Komik der prüden, doch liebeshungrigen und geldbewussten Vermieterin ganz ohne die Konventionen einer augenzwinkernden Doppelmoral. In ihren Augen liegt angesichts des Treibens um sie herum vielmehr ein namenloses Staunen – und wenn die politische Gewalt einbricht, ein unerhörtes Erschrecken. Singt sie mal im Walzertakt, trippelt sie mal im Kreuzschritt, dann ist doch alles Gemütsselige einer abgründigen Schwermut gewichen – so, als spielte sie auch ein gealtertes Mädchen von Kleist oder Horváth mit. Als seien ihre oft kunstvoll verlangsamten Stummfilmgesten der angehaltenen Zeit eines Traums, eines Albtraums abgeschaut.

Damit kontrastiert der wunderbar zarte, komödiantische Peter Franke, der unlängst als Sepp Herberger im Film- „Wunder von Bern“ brillierte. Er lässt auch das Bodenständige schweben und im jüdischen Obsthändler vom Nollendorfplatz einen gewitzten, doch rettungslos unweisen Nathan durchscheinen. Am Ende gibt’s dafür Ovationen. Und draußen vorm St.-Pauli-Theater bibbern die Nachfahrinnen von Sally Bowles, oh chum, in der feuchten Novembernacht.

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