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Kultur: Ein Gefühl von Freiheit

Zum 70. Geburtstag des Schriftstellers und Akademiepräsidenten György Konrád

Von Gregor Dotzauer

Wenn man in jeder Sprache ein anderer ist, gibt es nur Facetten eines letztlich ungreifbaren Selbst. Welchen Teil davon György Konrád in seiner Muttersprache zum Leben erweckt, kann man in seinem Berliner Leben höchstens ahnen. Aber so, wie das Ungarische den leisen deutschen Singsang durchdringt, mit dem er noch den klarsten politischen Äußerungen etwas silbrig Schwebendes gibt, ohne ihnen die Autorität zu nehmen, muss er einen überwältigenden Charme besitzen. „Die Sprache fließt“, hat er einmal erklärt. „Die Ungarn haben im Gegensatz zu den Deutschen keine untergeordneten Satzstrukturen. Alles kann sich bewegen, das gibt ein Gefühl der Freiheit.“ Und wie es sich für einen Schriftsteller gehört, der zwar viel, gerne und fantasievoll-ironisch in fremder Zunge redet, doch sich am liebsten zum Schreiben zurückzieht, sucht er diese Freiheit auch als Präsident der Akademie der Künste. Alles, was ihm bei Auftritten über die Lippen kommt, hat er zuvor auf Ungarisch notiert und seinem deutschen Übersetzer Hans-Henning Paetzke geschickt.

Als Konrád im Mai 1997 von Walter Jens die Präsidentschaft der Akademie übernahm, war er die Idealbesetzung, um das nach außen vereinigte, nach innen aber nach wie vor in Ost und West gespaltene Haus ins neue Jahrtausend zu führen. Er war der Mann, der als Theoretiker Mitteleuropas eine Vision von der Rolle Berlins hatte. Er war derjenige, der als Romancier und Essayist einen ebenso glänzenden Namen hatte wie als osteuropäischer Bürgerrechtler und Präsident des Internationalen PEN. Und er, der Sohn eines jüdischen Eisenwarenhändlers, hatte eine Vita, die enger mit einigen Wendepunkten des 20. Jahrhunderts verknüpft war, als man es sich hätte ausdenken können. 1944, als die Deutschen Ungarn besetzten, entkamen er und seine drei Jahre ältere Schwester der Deportation nach Auschwitz nur mit Glück. Seine Eltern überlebten das Konzentrationslager, viele Verwandte aber starben. 1956, im Jahr des niedergeschlagenen ungarischen Aufstands gegen die sowjetische Gewaltherrschaft, zerstob die Gruppe seiner Freunde in alle Himmelsrichtungen: Es wurde einsam in Ungarn für ihn. 1989 schließlich, nach Jahren der Spannungen mit dem zusehends siechen Regime von János Kádár, zwischen heimischer Samisdat-Produktion und Auslandsstipendien, erlebte er den Zusammenbruch des Sozialismus in ganz Osteuropa mit Genugtuung, doch nicht ohne Sorge: Er stritt für den ökonomischen Ausgleich zwischen dem armen Osten und dem reicheren Westen. Zwei Jahre später erhielt Konrád in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Das Glück der frühen Jahre

Mit seinem neuesten Buch „Glück“ (Suhrkamp Verlag, 156 Seiten, 19,90 €) , einem autobiografischen Roman, ist er in das Dorf zurückgekehrt, in dem er heute vor 70 Jahren geboren wurde: nach Berettyóújfalu bei Debrecen. „Glück“ erzählt von den prägenden Erlebnissen seiner frühen Jahre, vom Einmarsch der sowjetischen Truppen im Januar 1945 nach Budapest, wohin er mit seiner Schwester geflüchtet war und vom allmählichen Verheilen der Kriegswunden. Es ist das sprachlich konziseste und persönlichste Buch, das Konrád seit langem geschrieben hat – auf der Höhe seiner früheren Romane „Der Besucher“ (über einen im Verwaltunsapparat festsitzenden Fürsorgebeamten) oder „Der Komplize“ (über einen in der Psychiatrie zwangsinternierten Politprofi).

Die jüngere Romantetralogie von „Geisterfest“, „Melinda und Dragoman“, „Steinuhr“ und „Der Nachlass“ – eine fiktive Historiografie des ungarischen Jahrhunderts – ist demgegenüber deutlich formloser. Auch die Aufsehen erregenden Interventionen des Rhetors Konrád, etwa die Kritik am Kitsch des Berliner Holocaust-Mahnmals oder seine Wendung gegen den Nato-Einsatz im Kosovo, sind manchmal wolkigen Versöhnungsreden gewichen. Kraftvoller sind seine theoretischen Schriften: die soziologische Studie „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ (1978, mit Icán Szelényi) oder die „Mitteleuropäischen Meditationen“ unter dem Titel „Antipolitik“ (1985), der Traum von einer Zivilgesellschaft im Zeichen einer mitteleuropäischen Koordinatenverschiebung. Man kann Konrád nur wünschen, dass er nach dem Abschied aus dem Präsidentenamt im kommenden Mai wieder mehr Zeit für das Schreiben findet, wie er es sich ersehnt.

Selbst kann man nichts Besseres tun, als seinen Roman „Der Komplize“ (1980) noch einmal zu lesen: Er hat sein Verfallsdatum noch lange nicht überschritten – obwohl Arpád Göncz, nach der Wende zehn Jahre lang ungarischer Staatspräsident, einmal beklagt hat: „Ein seinerzeitiges Werk wieder zu lesen, heißt Gott zu versuchen". Die subversiven Codes hätten sich verflüchtigt. Nicht so in diesem Fall: „Der Komplize“ legt hochlebendig von der Tyrannei des Kommunismus Zeugnis ab. Und die allegorische (mit der Anstaltssituation auch wiederum ganz realistische) Konstruktion verweist auf eine Dimension jenseits der Geschichte, in der sich der Mensch seit jeher zu seiner eigenen Unterdrückung berufen fühlt. „Womöglich“, räsoniert der Ich-Erzähler in der Psychiatrie, „habt nicht ihr uns hierher verfrachtet, womöglich haben wir uns selbst durch euch hier eingesperrt.“ György Konrád wäre nicht der bewegliche Geist, der er ist, wenn er darin nicht zugleich die Chance zur Befreiung erkennen würde.

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