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Grenzgänger mit DDR-Vergangenheit. Sherko Fatah im Kunstquartier Bethanien.

© Andreas Pein/laif

Ein Gespräch mit Sherko Fatah: „Die Welt zerfällt vor unseren Augen“

Im März wird der Berliner Schriftsteller Sherko Fatah mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet. Mit dem Tagesspiegel spricht er über den Sinn von Literatur angesichts der globalen Explosion von Gewalt und die Verwahrlosung demokratischer Gesellschaften.

Herr Fatah, Ihr jüngster Roman „Der letzte Ort“ erzählt von der Entführung eines Deutschen und seines arabischen Übersetzers durch irakische Islamisten. Einerseits nimmt er die gegenwärtige Situation im Nahen Osten fiktional vorweg, andererseits konkurriert er mit der Übermacht des Tatsächlichen. Fürchten Sie den Moment, in dem Ihre Imagination der Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird?

Ja, ich kann mir vorstellen, dass eines Tages der Punkt kommt, an dem Romane nicht mehr ausreichen, mit der Realität fertigzuwerden. Je schlimmer das Ausmaß an Brutalität wird, wie vergangenen Dezember beim Schulmassaker der Taliban im pakistanischen Peschawar, um so mehr frage ich mich, ob sich dafür jemals Bilder finden lassen. Aber dann denke ich an einen Roman wie Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, der Dinge einfängt, die man eigentlich nicht erzählen kann.

Werfels Roman über den Völkermord an den Armeniern 1915 entstand aus einem historischen Abstand von über 15 Jahren. Haben Sie nie die Möglichkeiten der literarischen Reportage gelockt, in der auch Personen der Zeitgeschichte auftreten können? Denken Sie an den Großmeister der Gattung, den Polen Ryszard Kapuscinski und seine Afrika-Bücher.

Das Problem ist doch: Wie wird man einer Welt überhaupt gerecht, die vor unseren Augen zerfällt? Literatur ist nicht Widerspiegelung. Als ich das unlängst in Kurdistan gegenüber einem alten Marxisten behauptet habe, hat er mir vorgeworfen, Literatur sei dann reine Märchenerzählerei. Als Zeitgenosse müsse man sich dem Jetzt unterwerfen. Ich halte es für einen Fehler, die Literatur so an die Kette zu legen. Umgekehrt würde ich wahrscheinlich auch in eine Reportage immer Fiktionales mischen, und dann wäre es keine mehr. Auch Kapuscinski musste sich ja die Frage gefallen lassen: Ist das Journalismus oder Literatur?

Sein Biograf Artur Domoslawski hat ihm einen ziemlich freien Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte nachgewiesen, etwa durch erfundene Begegnungen mit Che Guevara und Patrice Lumumba, und von da aus Kapuscinskis ganze Arbeitsweise kritisiert.

Ja, er war in diesen Dingen unehrlich. Zweifelhaft ist nur, ob seine Texte dadurch schlechter geworden sind. Um auf mein kurdisches Terrain zurückzukehren: Die Literatur rettet keine einzige jesidische Frau – weil sie eben immer zu spät kommt. Sie ist nicht der moralische Gerichtshof für alles Schreckliche, das sich ereignet, sondern eine Schatulle für die Erinnerung.

Steht aber nicht auch sie vor der Herausforderung, Gewalttaten psychologisch beizukommen?

Das Fiktive beinhaltet, dass ich in die Köpfe von Leuten krieche. Ich sehe aber durchaus, dass es für die Kunst unsinnig ist, Heinrich Himmler so darzustellen, dass man seinen Motiven folgen kann. Literatur kann nicht alles. Nur: Welches Maß an Gewalt ist nötig, um sie gewissermaßen außer Funktion zu setzen? Das beste Beispiel ist Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“. Er versucht, den nationalsozialistischen Kriegsgräueln literarisch gerecht zu werden und scheitert. Sein Roman reproduziert die Vernichtung und ihre Organisation einfach in Sprache. Man kann so etwas nicht mit dem Dünkel tun, das Grauen in seiner Monumentalität abzubilden und dazu die Mittel des Realismus benutzen.

Sie halten Abstand zu den publizistischen Debatten über Islamismus und Einwanderung. Haben Sie nicht manchmal das Bedürfnis, mit Necla Kelek oder Monika Maron in den Ring zu steigen?

Mich stört einfach grundsätzlich die Fixierung auf die Religion. Vieles, was Frau Kelek beschreibt, ist in meinen Augen ein Terror der Sitten, für den man eine spezifische Religion gar nicht bräuchte: Die Verhältnisse wären auch so repressiv, das waren sie nämlich schon vor der Islamisierung. Wenn Monika Maron aber glaubt, dass die Einwanderung von Roma und Muslimen schlecht ist und man lieber nur kluge Chinesen reinlassen sollte – okay. Nur was ändert das? Einwanderung ist eine Tatsache. Sie wird uns nicht nur Astrophysiker ins Land bringen.

Zugleich zieht es manche nach Syrien.

Was bedeutet es für die europäische Integrationspolitik, wenn Tausende aus den Pariser Vororten und Hunderte aus Deutschland in ein fremdes Land aufbrechen, um Leute umzubringen? Gibt es im Herzen der demokratischen Gesellschaften eine Verwahrlosung, die uns entgeht? Auf der Frankfurter Buchmesse kam Wolfgang Thierse zu mir und sagte, hören Sie mir auf mit diesem sozialen Quatsch, wir müssen über die Religionsfreiheit nachdenken. Gut, habe ich ihn gefragt, glauben Sie denn, dass es in der Religion nur um den Glauben geht? Schauen Sie sich doch einmal die Biografien der Kämpfer an, die gehören alle zur Unterschicht: Wer von denen hat denn Abitur? Islam hin oder her, die könnten sich jeder Ideologie anschließen.

Werte muss man behaupten, sie sind nicht einfach als Schatz vorhanden

Grenzgänger mit DDR-Vergangenheit. Sherko Fatah im Kunstquartier Bethanien.
Grenzgänger mit DDR-Vergangenheit. Sherko Fatah im Kunstquartier Bethanien.

© Andreas Pein/laif

Nach dem „Charlie Hebdo“-Attentat hat sich in den Medien ein neues Sprechen über die Gewaltbereitschaft europäischer Islamisten entwickelt. Eine dreimonatige Reise in ein Trainingscamp von al-Qaida wird dann mit den Worten zusammengefasst: „Dort wurde er radikalisiert.“ Sind da nicht viel längere Prozesse im Spiel?

Davon bin ich überzeugt. Diese Verkürzungen sind nichts als unsachgemäße Vereinfachungen. Ich habe nie verstanden, warum es vielen Leuten so schwer- fällt, den Wunsch nach Teilhabe an etwas vermeintlich historisch Großem, nach Unterwerfung unter ein höheres Gesetz, nach Abenteuern im Krieg zu verstehen. Das ist entweder Fantasielosigkeit oder der Wunsch, etwas auszublenden, das es nicht geben darf. Für mich werden bei jedem dieser Anschläge Unsichtbare kurzzeitig sichtbar.

Aus verständlichen psychologischen Gründen hat der Pariser Terror in den letzten Wochen die westliche Welt bestimmt. Zugleich sind im Jemen zu Anfang des Jahres bei mehreren Anschlägen Dutzende von Menschen Opfer islamistischer Attacken geworden, und Boko Haram hat im Norden Nigerias eine ganze Stadt – Baga – niedergebrannt. Wie gehen Sie mit diesem Verhältnis von Nähe und Ferne um?

Aufmerksamkeit verteilt sich nicht gleichmäßig oder gar gerecht. Und auch meine eigene Teilnahme ist deutlich größer bei Anschlägen wie denen in Paris als bei Ereignissen im fernen Nigeria. In der Literatur versuche ich die so getrennten Welten miteinander zu verbinden. Daher interessiert mich der Dschihad-Tourismus, wie er sich vornehmlich in Westeuropa herausgebildet hat, auch literarisch.

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre herrschten im Irak wie in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens noch säkulare Verhältnisse. Wie konnte daraus eine flächendeckende Islamisierung entstehen?

Man kann wie Slavoj Žižek behaupten, der Kapitalismus und seine rasende Gewalt seien schuld. Damit wären das alles westliche Konflikte. Ich finde, dass sich die gegenwärtige Explosion der Gewalt, die alle alten Grenzen auflöst, dieser Theorie entzieht. Man muss aber einräumen, dass der Westen in Gestalt säkularer Diktaturen im Nahen Osten längst vor Ort war: Hosni Mubarak, Saddam Hussein und der Schah von Persien waren seine Vertreter. So erkläre ich mir auch, warum der arabische Frühling scheitern musste. Alles, was sich erreichen ließ, war es, neue Diktatoren zu inthronisieren. Erstaunlicherweise sind zumindest die Kurden im Irak unter dem Druck von ISIS wieder so ähnlich geworden wie vor 40 Jahren. Sie zelebrieren einen ostentativen Säkularismus: keine Schleier bei den Frauen, alles ganz verwestlicht, sogar die Gleichberechtigung der Geschlechter haben sie eingeführt.

Steht dieser Säkularismus denn für eine Idee von universalen Werten, an der Sie festhalten wollen?

Schon als ich in den achtziger Jahren zu studieren anfing, gab es einen Kulturrelativismus im Umkreis des postmodernen Denkens. Ich glaube, es war Peter Scholl-Latour, der behauptet hat, China könne es nach 5000 Jahren Kulturgeschichte nicht ertragen, wenn ihm Europa Vorhaltungen in Bezug auf die Menschenrechte macht. Ich halte das für reaktionäres Denken. Das Problem mit den Werten ist ja, dass man sie behaupten muss. Sie sind nicht einfach als Schatz vorhanden, den jeder in sich findet, man muss sie setzen. Da fühle ich mich ganz in der Tradition der Aufklärung. Man sieht im Nahen Osten, was passiert, wenn die Brutalität der Diktatoren über Jahrzehnte Gesellschaften zerstört. In China herrscht diese Brutalität, weil die Regierung nichts mehr fürchtet als den Separatismus. Ihn bekämpft sie mit allen Mitteln des Überwachungsstaats.

China hat mit einigen Minderheiten vielleicht auch deshalb Probleme, weil die einen kulturellen Eigensinn pflegen, den die Kulturrevolution auf nationaler Ebene längst abgeschafft hat. Die zehn Millionen Uiguren, die zum größten Teil sunnitische Muslime sind, leben dem Pekinger Regime eine kulturelle Kontinuität vor, die ihm selbst fremd geworden ist.

Ja, mit Mao haben die Chinesen ihre Tradition zerstört. Die Kultur ist so gründlich unterbrochen worden, dass sie erst einmal rekonstruiert werden muss. Aber Werte muss man sich als Ziel setzen, und Europa täte gut daran, an ihnen festzuhalten, gegen China wie gegen jeden anderen Riesen. Von der Türkei über Russland bis nach China gewinnen antidemokratische Modelle die Oberhand, die auch wirtschaftlich leistungsfähig sind.

Heißt das, dass wir auf elementaren Rechten, liberalen Institutionen und der Gewaltenteilung bestehen und im selben Moment anerkennen sollten, dass es zwischen Kulturen fundamentale Differenzen gibt?

Ich bin ganz einverstanden: Wir machen immer beide Erfahrungen. Die fundamentalen Unterschiede liegen wahrscheinlich darin, dass es sich im Nahen Osten um Stammesgesellschaften handelt. Soll man sie erschüttern, soll man sie auflösen? Was ist in Indien mit dem Kasten- System? Muss es aufgesprengt werden? Wir müssen begreifen, dass sich die Dinge unter den Bedingungen des Iraks oder auch Indiens anders entwickeln – das heißt aber nichts für die Menschenrechte. Warum, außer zu Geschäftszwecken, sollten wir uns mit Kulturen abgeben, die systematisch foltern?

Sherko Fatah, 1964 als Sohn einer Deutschen und eines irakischen Kurden in Ost-Berlin geboren, erkundet in allen seinen sechs bisherigen Büchern Welten des Nahen Ostens, den er auch regelmäßig bereist. 1975 siedelte die Familie mit einem Umweg über Wien nach West-Berlin über. Nach dem Studium der Philosophie und Kunstgeschichte, das er an der Freien Universität abschloss, debütierte er 2001 mit dem Roman Im Grenzland. 2008 stand er mit Das dunkle Schiff, der Geschichte eines irakischen Kochs, der vor seinen einstigen Gotteskriegergefährten nach Deutschland flieht, auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2011 folgte sein historischer Bagdad-Roman Ein weißes Land. Im März erhält er für sein Gesamtwerk und insbesondere seinen jüngsten Roman Der letzte Ort (Luchterhand) den Chamisso-Preis der Robert-Bosch-Stiftung und den Großen Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste. Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.

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